Maxie und ein Fisch mit Fernweh
meinen Augen nicht. Der Junge, den sie im Schwitzkasten hält, ist der Bruder von Jonas Pfeffer, Lukas. „Jule!“, brülle ich. „Hör sofort auf!“
Im gleichen Moment taucht meine Schwester Kassia auf. „Was macht Jule da?“, fragt sie entsetzt.
Kassia hasst Prügeleien. Wenn sie so richtig sauer ist, hält sie einen feurigen Vortrag darüber, wie doof und gemein man ist. Das kann sie natürlich perfekt, und sie trifft einen damit mindestens so sehr wie mit einer Ohrfeige.
Ich erwische Jule am Ellbogen und zerre sie entschlossen aus dem staubigen Hände- und Füßeknäuel heraus.
„Lass mich“, brüllt Jule und wehrt sich wie verrückt.
Das kleine Biest ist stärker, als ich dachte. Sie verpasst mir einen schmerzhaften Tritt gegen das Schienbein.
„Aua!“ Ich sehe einen Moment lang kleine lila Sterne, so weh tut das. Ich lasse Jule los und reibe mein Bein.
Zum Glück kommen mir Jana und Tim zu Hilfe und schnappen sich die beiden Zwerge.
Jule zappelt wie ein hilfloser Käfer und brüllt außer sich vor Wut. Ihr Gesicht ist schmutzig und tränenverschmiert.
Lukas heult lautlos in sich hinein und hält sich sein dickes Auge.
„Was ist hier los?“, ruft eine schneidende Stimme.
Oje, das ist Frau Rabe. Sie ist wirklich total lieb, aber eine Sache kann sie überhaupt nicht ausstehen und das ist Streit. Dann wird sie kreidebleich vor Ärger und man sieht am besten zu, dass man Land gewinnt, bevor sie mit ihrer Strafpredigt beginnt.
Dass sie ausgerechnet heute Pausenaufsicht hat, ist echt Pech für Jule. Es ist Frau Rabe ohne Weiteres zuzutrauen, dass sie meine Schwester zum Direktor schleift und die beiden bei unserer Mutter anrufen. Denn so wie ich die Lage einschätze, hat Lukas deutlich mehr abgekriegt als Jule. Sein Auge wird bereits lila.
Ich habe keine Ahnung, was in meine Schwester gefahren ist, aber ich kenne sie seit immerhin neun Jahren und weiß, dass Lukas an diesem Streit nicht unschuldig sein kann.
„Jule Buntschuh, was genau geht hier vor? Wenn du nicht sofort antwortest, passiert was.“ Frau Rabes Stimme geht mir durch Mark und Bein.
Ich lege beschützend den Arm um Jules Schulter. Sie hat zwar gerade versucht, mein Schienbein zu zertrümmern, aber gegen Frau Rabe halten wir zusammen, das ist ja klar.
„Frau Rabe, meine Schwester wird sicher einen Grund dafür gehabt haben, dass sie sich mit diesem Jungen zankt“, mischt sich Kassia in einem so sachlichen Tonfall ein, als würde sie Mamas Einkaufszettel vorlesen. „Sie wissen, dass Jule sich noch nie geprügelt hat. Anscheinend ist etwas Außergewöhnliches vorgefallen. Vielleicht fragen Sie erst einmal den Jungen, dem sie das blaue Auge gehauen hat. Bestimmt gibt es eine logische Erklärung dafür.“
Frau Rabe wird puterrot im Gesicht. „Ich habe dich nicht zu einer Einschätzung aufgefordert, liebe Kassia“, faucht sie. „Und ich verbiete dir, mich in so einem frechen Tonfall zu belehren. Sonst landest du in wenigen Sekunden zusammen mit deiner missratenen Schwester beim Direktor.“
Kassia sieht Frau Rabe kühl an. „Ich bitte darum. Dann können wir alles in Ruhe lösen. Auch, ob meine Schwester missraten ist oder meine Einwände frech sind. Was ich beides sehr bezweifle.“
Mal ganz ehrlich: Manchmal habe ich das Gefühl, dass bei meiner Schwester im Oberstübchen einiges anders ist als bei normalen Leuten. Wie kann man mit elf Jahren solche Sätze ausspucken? Und merkt Kassia nicht, dass Frau Rabe, die eigentlich der friedlichste Mensch auf der ganzen Welt ist, gleich explodiert?
Mir wird ganz heiß vor Angst um meine Schwestern. Irgendetwas läuft hier total schief.
Als Kassia erneut den Mund aufmacht, um uns alle um Kopf und Kragen zu argumentieren, fange ich an zu krächzen wie Herr Schiller. „Krah, krah, krah! Krah, krah, krah!“ Dazu deute ich mit meinen Ellbogen aufgeregte Flügelbewegungen an. „Krah, krah, krah!“
Kassia hält verdutzt inne und verstummt.
Die herumstehenden Kinder, die Frau Rabes Wutausbruch ängstlich verfolgt haben, fangen erleichtert an zu kichern.
Frau Rabe schaut mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Selbst Jule hört einen Moment auf zu zappeln.
Wie schon gesagt: Ich mache mich nicht gerne zum Affen. Aber außergewöhnliche Situationen erfordern auch außergewöhnliche Aktionen. Um meine Familie vor dem Untergang zu retten, wäre ich zu fast allem bereit. Wenn Frau Rabe mich für verrückt hält, verfliegt vielleicht ein Teil ihrer Wut auf Jule und Kassia.
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