Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
versuchen die Ereignisse dieses Tages zusammenzufassen, so wie sie mir berichtet wurden und wie ich mich erinnere, obwohl mein Kopf wegen des Aufpralls noch nicht wieder voll einsatzfähig ist. Einiges an dem Unfall bleibt unbegreiflich, aber hier hat niemand vor, dem ernsthaft auf den Grund zu gehen.
Ich stand lange dort oben und schaute zu, wie die Landschaft im Nebel rasch jede Kontur verlor; der silbrige Spiegel des Meeres, die Felsen und die Seelöwen waren in den grauen Schwaden schon nicht mehr zu sehen. Im Dezember gibt es strahlende Tage, und andere sind kühl wie dieser, mit Nebel und staubfeinem Nieselregen, der von einem Moment auf den anderen zu einem Wolkenbruch werden kann. An diesem Samstag hatte morgens die Sonne geschienen, und im Laufe des Vormittags hatte es sich zugezogen. Der zarte Nebelschleier tauchte den Friedhof in eine Schwermut, wie sie zum Abschied von Doña Lucinda, der Ururgroßmutter von allen im Dorf, passte. Eine Stunde später war die Welt oben auf dem Hügel in eine wattige Decke gehüllt, als wollte sie meinen Gemütszustand untermalen. Zorn, Beschämung, Enttäuschung und Schmerz, die mich aufgewühlt hatten, als ich Daniel verlor, waren einer Traurigkeit gewichen, die so konturlos und unstet war wie der Nebel. Liebeskummer nennt man das wohl, laut Manuel die trivialste Tragödie überhaupt, aber weh tut es trotzdem. Der Nebel ist unheimlich, man wittert zwei Meter weiter wer weiß welche Gefahren, wie in diesen Krimis aus London, die Mike O’Kelly so liebt, wo der Mörder im von der Themse aufziehenden Nebel verschwindet.
Mich fröstelte, weil mir die Feuchtigkeit langsam in die Glieder kroch, und diese völlige Einsamkeit machte mir Angst. Plötzlich spürte ich etwas nah bei mir, und es war nicht mein Pop, sondern etwas vage Bedrohliches wie ein großes Tier, ich wollte es schon als Ausgeburt meiner Phantasie verscheuchen, die mir manchmal böse Streiche spielt, aber da fing Fákin an zu knurren. Er stand neben mir, hatte die Ohren gespitzt, das Fell auf seinem Rücken gesträubt, reckte den Schwanz in die Höhe und bleckte die Zähne. Gedämpft hörte ich Schritte.
»Wer ist da?«, rief ich.
Noch zwei Schritte, dann löste sich unscharf eine menschliche Gestalt aus dem Nebel.
»Halt den Hund zurück, Maya, ich bin’s …«
Es war Officer Arana. Ich erkannte ihn sofort trotz des Nebels und seiner seltsamen Aufmachung, die aussah, als hätte er sich als amerikanischer Tourist verkleidet, Hose mit Schottenkaro, Baseballkappe und Fotoapparat vor der Brust. Eine große Mattigkeit überkam mich, eine eisige Ruhe: So endete also ein Jahr des Versteckspiels, ein Jahr der Ungewissheit.
»Guten Tag, Officer, ich habe Sie erwartet.«
»Wie das?«
Wozu ihm erklären, was ich aus den Mails meiner Nini geschlossen hatte und was er selbst doch am besten wusste; wozu ihm sagen, dass ich mir schon seit geraumer Zeit jeden Schritt ausmalte, den er mir unerbittlich näher kam, überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis er mich aufgespürt hätte, und angstvoll diesem Augenblick entgegensah. Durch seinen Besuch bei meiner Familie in Berkeley war er auf unsere chilenischen Wurzeln gestoßen, danach wird er herausgefunden haben, an welchem Tag ich die Entzugsklinik verließ. Mit seinen Verbindungen muss es ein Leichtes für ihn gewesen sein, zu recherchieren, dass mein Pass verlängert wurde, und für den fraglichen Zeitraum die Passagierlisten der beiden Fluggesellschaften einzusehen, die von San Francisco nach Chile fliegen.
»Dieses Land ist ziemlich lang, Officer. Wie sind Sie auf Chiloé gekommen?«
»Erfahrung. Du siehst gut aus. Bei unserer letzten Begegnung in Las Vegas warst du eine bettelnde Fixerin und nanntest dich Laura Barron.«
Sein Ton war freundlich und entspannt, als wären wir uns hier zufällig über den Weg gelaufen. In aller Kürze erzählte er mir, dass er nach dem Essen mit meiner Nini und meinem Vater draußen vor dem Haus gewartet hatte und die beiden, wie vermutet, fünf Minuten später wegfahren sah. Ohne Schwierigkeiten gelangte er ins Haus, sah sich ein bisschen um, fand einen Umschlag mit Fotos und darin die Bestätigung für seinen Verdacht, dass meine Familie mich irgendwo versteckt hielt. Ein Foto fiel ihm besonders ins Auge.
»Ein Haus, das von Ochsen gezogen wird«, kam ich ihm zuvor.
»Genau. Du rennst vor den Ochsen her. Über Google fand ich heraus, zu welchem Land die Fahne am Giebel gehört, ich suchte nach ›haustransport ochsen
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