Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
Vor einer Woche verabschiedete mich meine Großmutter mit einer tränenlosen Umarmung am Flughafen von San Francisco und schärfte mir noch einmal ein, wenn mir mein Leben lieb sei, dann solle ich mit keinem, der mich kennt, in Verbindung treten. Jedenfalls bis wir uns sicher sein könnten, dass meine Verfolger nicht mehr nach mir suchten. Meine Nini ist paranoid wie alle Bewohner der Unabhängigen Volksrepublik Berkeley, die sich von der Regierung und von Außerirdischen verfolgt fühlen, doch hat sie in meinem Fall nicht übertrieben: Wir können nicht vorsichtig genug sein. Sie drückte mir ein Heft mit hundert leeren Seiten in die Hand, damit ich Tagebuch schreibe, wie ich das zwischen acht und fünfzehn getan habe, ehe alles anfing aus dem Ruder zu laufen. »Du wirst jede Menge Zeit haben, dich zu langweilen, Maya. Du kannst sie nutzen und über den monumentalen Mist schreiben, den du gebaut hast, vielleicht kriegst du ein Gespür für die Ausmaße«, sagte sie. Von mir existieren acht mit Industrieklebeband versiegelte Tagebücher, die mein Großvater früher in seinem abschließbaren Schreibtisch verwahrte und die heute in einer Schuhschachtel unter Ninis Bett lagern. Das hier wird mein neuntes. Meine Nini glaubt, die Aufzeichnungen könnten mir nützlich sein, wenn ich irgendwann eine Psychoanalyse mache, weil sich darin die Anhaltspunkte fänden, um das Kuddelmuddel meiner Persönlichkeit zu entwirren; hätte sie die Tagebücher gelesen, dann wüsste sie, dass lauter Hirngespinste drinstehen, mit denen man Freud persönlich aufs Glatteis führen könnte. Eigentlich misstraut meine Großmutter Menschen, die nach Stunden bezahlt werden,weil denen nicht an zügigen Erfolgen gelegen ist, aber bei Psychiatern macht sie eine Ausnahme. Einer hat sie nämlich von ihrer Depression und aus den Fängen der Magie befreit, als sie meinte, sie müsse mit den Toten in Verbindung treten.
Ich steckte das Heft in meinen Rucksack, weil ich sie nicht kränken wollte, und hatte eigentlich nicht vor, es zu benutzen, doch vergeht die Zeit hier wirklich zäh, und mit Schreiben lassen sich die Stunden füllen. Diese erste Woche im Exil ist mir lang geworden. Ich sitze auf einer winzigen Insel, auf der Landkarte kaum zu erkennen, und hier ist es wie im Mittelalter. Ich tue mich schwer, über mein Leben zu schreiben, weil ich nie weiß, woran ich mich erinnere und was ich mir bloß einbilde; strikt bei der Wahrheit zu bleiben kann einen anöden, deshalb verändere oder überzeichne ich sie oft und merke es gar nicht, aber diesmal habe ich fest vor, das bleiben zu lassen, und ich werde fortan so wenig wie möglich lügen. Obwohl heutzutage selbst die Yanomami am Amazonas Computer benutzen, schreibe ich jetzt also mit der Hand in dieses Heft. Das ist mühsam, und meine Schrift sieht aus wie Kyrillisch, jedenfalls kann ich sie selbst kaum entziffern, was aber bestimmt mit jeder Seite besser wird. Schreiben ist wie Fahrradfahren: Man verlernt es nicht, auch wenn man es jahrelang nicht tut. Ich will versuchen, der Reihe nach zu erzählen, an irgendwas muss man sich ja orientieren, und das scheint mir das Einfachste, selbst wenn ich zuweilen den Faden verliere, mich verzettele, mir Wichtiges erst später wieder einfällt und ich es dann nicht nachträglich dazwischenquetschen kann. Meine Erinnerung bewegt sich in Kreisen, Spiralen und waghalsigen Sprüngen.
Ich bin Maya Vidal, neunzehn Jahre alt, weiblich, ledig, ohne festen Freund, weil es mir an Gelegenheiten mangelt und nicht, weil ich zickig wäre, bin im kalifornischenBerkeley geboren, besitze einen US-amerikanischen Pass und bin vorübergehend auf eine Insel im Süden der Welt geflohen. Maya heiße ich, weil meine Nini eine Schwäche für Indien hat und meinen Eltern kein anderer Name eingefallen ist, obwohl sie neun Monate Zeit gehabt hätten, darüber nachzudenken. Auf Hindi bedeutet Maya »Zauber, Illusion, Traum«. Was mit mir nicht mal entfernt zu tun hat. »Attila« würde besser passen, jedenfalls wächst, wo ich hintrete, kein Gras mehr. Meine Geschichte beginnt mit meiner Großmutter, meiner Nini, in Chile, lange vor meiner Geburt, denn wäre sie nicht ausgewandert, dann hätte sie sich nicht in meinen Pop verliebt, sie wäre nicht nach Kalifornien gezogen, mein Vater hätte meine Mutter nicht kennengelernt, und ich wäre nicht ich, sondern eine junge Chilenin und völlig anders. Wie bin ich? Eins achtzig groß, achtundfünfzig Kilo, wenn ich Fußball spiele, und etliche
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