Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
Straße aufgriffen und in die Wohnung brachten, damit ich ihnen verriet, wo das restliche Geld war, rettete mich Freddy noch einmal. Er fand mich nicht zufällig dort geknebelt und gefesselt auf der Matratze, sondern weil er gehört hatte, wie Joe Martin telefonierte und dann zum Chinesen sagte, man habe Laura Barron gefunden. Er versteckte sich im Treppenhaus, sah die beiden mit mir ankommen und wenig später ohne mich wieder verschwinden. Über eine Stunde überlegte er, was er tun sollte, bis er sich einen Ruck gab und in die Wohnung ging, um zu sehen, was sie mit mir gemacht hatten. Unklar war, ob derjenige, der den Mord an Brandon Leeman zu verantworten hatte, derselbe war, der die Mörder später über Telefon wissen ließ, wo sie mich finden konnten, und ob es sich dabei um den korrupten Polizisten handelte, falls es nur einer war, es konnten ebenso gut mehrere sein.
Mike O’Kelly und meine Großmutter gingen in ihren Spekulationen nicht so weit, Officer Arana ohne Beweise zu beschuldigen, hielten ihn allerdings auch nicht für unverdächtig, und Freddy tat das ebenso wenig und hatte deshalb Angst. Wer auch immer Joe Martin und den Chinesen allein oder zusammen mit anderen in der Wüste beseitigt hatte, würde dasselbe mit ihm tun, wenn er ihn zu fassen bekäme. Meine Nini wandte ein, sollte Arana derjenige sein, dann hätte er Freddy doch in Las Vegas loswerden können, aber laut Mike wäre es schwierig gewesen, einen Patienten imKrankenhaus oder einen Schützling der wehrhaften Witwen für Jesus umzubringen.
Manuel war zusammen mit Blanca nach Santiago gereist, um sich von Dr. Puga untersuchen zu lassen. So lange kam Juanito Corrales zu mir ins Haus, weil wir endlich den vierten Band von Harry Potter fertig lesen wollten. Mein Bruch mit Daniel, oder besser seiner mit mir, lag schon über eine Woche zurück, ich lief aber noch immer verheult herum, fühlte mich wie ein geprügelter Hund, ging allerdings wieder zur Arbeit. Es waren die letzten Wochen vor den Sommerferien, da konnte ich nicht fehlen.
Am Donnerstag, dem 3. Dezember, machte ich mich mit Juanito zu Doña Lucinda auf, um Wolle zu kaufen, weil ich für Manuel einen meiner schlimmen Schals stricken wollte, was das mindeste ist, was ich für ihn tun kann. Zum Abwiegen packte ich unsere Waage ein, die von meiner Zerstörungswut verschont geblieben ist, denn an der von Doña Lucinda sind die Zahlen unter den Rußschichten der Jahre nicht mehr zu lesen, und um ihr den Tag zu versüßen, nahm ich ihr einen Birnenkuchen mit, der nicht aufgegangen war, ihr aber dennoch schmecken würde. Ihre Haustür hat sich durch das Erdbeben 1960 verklemmt, und seither geht man hinten herum ins Haus, über den Hof, wo ihre Marihuanapflanzen wachsen, der Herd und die Blecheimer zum Färben der Wolle stehen, ein paar Hühner herumlaufen, die Kaninchen in ihren Ställen hocken und zwei Ziegen wohnen, die ursprünglich Milch für Käse gaben, inzwischen aber einen Ruhestand ohne Verpflichtungen genießen. Fákin kam in seinem seitlichen Trott hinter uns her, hielt schnüffelnd die Nase in den Wind, wusste deshalb, schon ehe wir das Haus betraten, was geschehen war, und begann eindringlich zu jaulen. Rasch schlossen sich ihm die Hunde ringsum an, erzählten sich die Nachricht weiter, und im Nu jaulte die gesamte Insel.
Im Haus fanden wir Doña Lucinda in ihrem Weidensessel neben dem erloschenen Ofen, sie trug ihr Sonntagskleid, hielt ihren Rosenkranz in der Hand, hatte sich das schüttere weiße Haar ordentlich zu einem Knoten gesteckt und war schon kalt. Als sie gespürt hatte, dass es ihr letzter Tag auf Erden sein würde, hatte sie sich selbst zurechtgemacht, weil niemand nach ihrem Tod Mühe mit ihr haben sollte. Ich setzte mich neben sie auf den Boden, während Juanito loslief, um den Nachbarn Bescheid zu sagen, die sich schon, vom Chor der Hunde angelockt, auf den Weg gemacht hatten.
Am Freitag arbeitete wegen der Totenwache niemand auf der Insel, und am Samstag gingen wir alle zur Beerdigung. Der Tod der über Hundertjährigen war für alle ein schwerer Schlag, denn eigentlich hatte niemand sie mehr für sterblich gehalten. Zur Totenwache im Haus brachten die Nachbarinnen Stühle mit, und nach und nach füllten sich auch der Hof und die Straße. Man hatte Doña Lucinda auf dem Tisch, wo sie immer gegessen und ihre Wolle abgewogen hatte, in einem schlichten Sarg aufgebahrt und ringsum quoll es über von Blumen in Vasen und Plastikflaschen, Rosen, Hortensien,
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