Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
Man nimmt an, es handelt sich bei ihm um einen gewissen Donald Richards, denn ein Amerikaner dieses Namens hat für zwei Übernachtungen im Hotel Galeón Azul in Ancud eingecheckt, hat die erste Nacht dort verbracht und ist dann verschwunden. Als er nicht wieder auftauchte, kam der Hotelmanager, der die Unfallmeldung in der Lokalzeitung gelesen hatte, auf den Gedanken, es könne sich bei dem Verunglückten um diesen Mann handeln, und verständigte die Polizei. Im Koffer fand man Kleidung, ein Canon-Objektiv und den Reisepass von Donald Richards, ausgestellt 2009 in Phoenix, Arizona, und augenscheinlich noch wenig benutzt, mit einem einzigen internationalen Einreisestempel, nämlich dem für die Einreise in Chile am 4. Dezember, einen Tag vor dem Unfall. Im Einreiseformular war als Grund für die Reise Tourismus angegeben. Dieser Richards kam in Santiago an, flog am selben Tag weiter nach Puerto Montt, verbrachte eine Nacht im Hotel in Ancud und wollte am übernächsten Tag wieder abreisen; ein unerklärliches Unternehmen, denn kein Mensch reist für achtunddreißig Stunden von Arizona nach Chiloé.
Der Pass bestätigt meinen Verdacht, dass gegen Arana im Police Department von Las Vegas ermittelt wird und er deshalb die Vereinigten Staaten nicht unter richtigem Namen verlassen konnte. Einen falschen Pass zu besorgen war für ihn bestimmt kein Problem. Niemand aus dem amerikanischen Konsulat kam auf die Insel, der offizielle Polizeibericht genügte denen. Wer immer sich die Mühe gemacht hat, nach der Familie des Verunglückten zu suchen, um die Todesnachricht zu überbringen, hat sie nicht gefunden,und unter den dreihundert Millionen Einwohnern der USA muss es Tausende Richards geben. Eine offensichtliche Verbindung zwischen Arana und mir besteht nicht.
Ich blieb bis Freitag im Krankenhaus, und am Samstag, dem 12. Dezember, brachten sie mich zu Don Lionel Schnake, wo ich empfangen wurde wie ein Kriegsheld. Ich hatte am ganzen Körper blaue Flecken, meine Kopfhaut war mit dreiundzwanzig Stichen genäht worden, und ich musste ohne Kopfkissen und im Halbdunkel auf dem Rücken liegen wegen meiner Gehirnprellung. Im OP hatte man mir den halben Schädel rasiert, um mich zu nähen, offenbar will es das Schicksal, dass ich glatzköpfig herumlaufe. Seit der letzten Rasur im September war mein Haar drei Zentimeter nachgewachsen, und jetzt weiß ich, meine natürliche Haarfarbe ist gelb wie der VW meiner Großmutter. Mein Gesicht war noch immer sehr geschwollen, aber die Zahnärztin vom Millalobo hatte schon nach mir gesehen, eine Frau mit deutschem Nachnamen, die weitläufig mit den Schnakes verwandt ist. (Ob es in diesem Land jemanden gibt, der nicht mit den Schnakes verwandt oder verschwägert ist?) Die Zahnärztin sagte, sie ersetzt mir die fehlenden Zähne. Außerdem meinte sie, die neuen würden besser aussehen, als die, die ich verloren habe, und bot an, mir die übrigen noch kostenlos zu bleichen als Gefälligkeit gegenüber dem Millalobo, der ihr geholfen hat, einen Bankkredit zu bekommen. Ein Tauschgeschäft über Bande, und ich profitiere davon.
Der Arzt hatte mir strenges Liegen und Ruhe verordnet, aber die Besucher gaben sich die Klinke in die Hand; die schönen Hexen aus der Ruca sind gekommen, eine davon mit ihrem Säugling, die Familie Schnake in großer Zahl, Freunde von Manuel und Blanca, Liliana Treviño und ihr Freund, Dr. Pedraza, viele Leute von der Insel, meine Fußballjungs und Pater Luciano Lyon. »Ich bringe dir die letzte Ölung, Gringuita«, sagte er lachend und reichte mir eineSchachtel Pralinen. Er erklärte mir, heutzutage heiße dieses Sakrament Krankensalbung und man müsse danach nicht mehr notwendig ins Gras beißen. Kurz, von Ruhe konnte keine Rede sein.
Diesen Sonntag habe ich die Präsidentschaftswahl im Fernsehen verfolgt, der Millalobo saß am Fußende meines Bettes, war sehr aufgeregt und ziemlich angeheitert, weil sein Kandidat, der konservative Multimillionär Sebastián Piñera, wahrscheinlich das Rennen macht und er zur Feier des Tages allein eine Flasche Champagner getrunken hatte. Er bot mir ein Glas an, und ich nutzte die Gelegenheit und sagte ihm, dass ich nichts trinken kann, weil ich Alkoholikerin bin. »Du Ärmste! Das ist ja schlimmer, als Vegetarier zu sein«, rief er. Keiner der Kandidaten bekam genug Stimmen, deshalb wird es im Januar eine Stichwahl geben, aber der Millalobo ist sicher, dass sein Freund gewinnt. Seine politische Position scheint mir etwas unklar: Er
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