Medicus 02 - Der Schamane
Fragen. Der Professor beantwortete sie und ließ dabei seinen neuen Assistenten nicht aus den Augen, der in der Zwischenzeit die Leiche und die anatomischen Präparate in den Konservierungstank legte, den Tisch schrubbte und dann die Instrumente reinigte, abtrocknete und aufräumte. Rob J. wusch sich gerade gründlich die Hände, als der letzte Student ging. »Sie waren nicht schlecht.«
Warum auch nicht, wollte Rob J. sagen, es ist schließlich eine Arbeit, die auch jeder intelligente Student verrichten kann. Statt dessen ertappte er sich bei der Frage, ob er einen Vorschuss erhalten könne. »Ich habe gehört, Sie arbeiten für die Dispensary. Ich habe selbst einmal für diesen Verein gearbeitet. Verdammt harte Arbeit, bei der man bestimmt nicht reich wird. Aber sehr lehrreich.« Holmes nahm zwei Fünf-Dollar-Scheine aus seiner Brieftasche. »Genügt ein halber Monatslohn?«
Rob J. versuchte, sich die Erleichterung nicht allzusehr anmerken zu lassen, als er Dr. Holmes versicherte, dass dies genüge. Sie löschten die Lampen, verabschiedeten sich am Fuß der Treppe und gingen ihrer Wege. Als Rob J. an einer Bäckerei vorbeikam, nahm ein Mann eben Tabletts mit Gebäck aus dem Fenster, weil er den Laden schließen wollte, und Rob J. ging hinein und kaufte sich zur Feier des Tages zwei Brombeertörtchen. Er hatte vor, sie auf seinem Zimmer zu verspeisen, doch im Haus an der Spring Lane war das Dienstmädchen noch auf und wusch das Geschirr. Er ging in die Küche und zeigte ihr die Törtchen. »Eins gehört dir, wenn du mir hilfst, ein bisschen Milch zu klauen.«
Sie lächelte. »Brauchst nicht zu flüstern! Sie schläft schon.« Sie deutete nach oben, wo Mrs. Burtons Zimmer lag. »Wenn die mal schnarcht, weckt sie nichts mehr auf.« Sie trocknete sich die Hände ab und holte Milch, dazu zwei saubere Tassen. Sie heiße Margaret Holland, sagte sie, aber jeder nenne sie Meg. Nach dem Festmahl klebte ihr ein Milchbart an der Oberlippe, und er beugte sich über den Tisch und wischte ihn mit ruhigen Chirurgenfingern weg.
Die Anatomiestunde
Sehr schnell entdeckte Rob J. den schrecklichen Makel, welcher der Arbeitsweise der Dispensary anhaftete. Die Namen auf den Scheinen, die er jeden Morgen erhielt, waren nicht die der am schwersten Erkrankten im Fort-Hill-Viertel. Die medizinische Versorgung erwies sich als ungerecht und undemokratisch. Die Patientenscheine wurden an die reichen Spender der Organisation verteilt, und die füllten sie aus, um sie an jene weiterzugeben, die sie mochten, meistens an ihre eigene Dienerschaft als Belohnung. Häufig wurde er zu Leuten gerufen, die nur geringfügige Beschwerden hatten, während ein paar Türen weiter ein Mittelloser ohne ärztliche Betreuung starb. Der Eid, den er geleistet hatte, verbot ihm, Schwerstkranke unbehandelt zu lassen, doch wenn er seine Stelle behalten wollte, musste er eine große Anzahl von Scheinen abliefern und nachweisen, dass er die Patienten behandelt hatte, deren Namen auf Ihnen standen.
Eines Abends sprach er nach der Vorlesung mit Dr. Holmes über dieses Problem. »Als ich für die Dispensary gearbeitet habe«, sagte der Professor, »habe ich bei den Freunden meiner Familie, die gespendet haben, unausgefüllte Behandlungsscheine gesammelt. Ich werde das wieder tun und sie Ihnen geben.« Rob J. war dankbar dafür, doch seine Stimmung wurde nicht besser. Er würde nie genug Blankoscheine zusammenbringen, um alle bedürftigen Patienten in seinem Distrikt behandeln zu können. Dazu hätte man eine ganze Armee von Ärzten gebraucht.
Oft war es der einzige Lichtblick seines Tages, sich spätabends, wenn er in die Spring Lane zurückkehrte, ein paar Minuten zu Meg Holland in die Küche zu setzen und mit ihr heimlich beiseite geschaffte Überbleibsel zu essen. Er gewöhnte es sich an, ihr kleine Geschenke mitzubringen, eine Tüte heiße Maronen, ein Stück Ahornzucker oder ein paar gelbe Pippinäpfel. Das irische Mädchen erzählte ihm den Hausklatsch: dass Mr. Stanley Finch - dieser Aufschneider! - ein Mädchen geschwängert habe und ausgerissen sei, dass Mrs. Burton einmal sehr nett und dann wieder unausstehlich sein könne oder dass der Hausdiener Lern Raskin, der im Zimmer neben Rob J. wohnte, einen mächtigen Durst habe.
Nach etwa einer Woche ließ sie sehr beiläufig die Bemerkung fallen, dass Lern, wenn man ihm ein Viertel Brandy spendiere, alles auf einmal austrinke und dann nicht mehr wach zu kriegen sei. Am folgenden Abend bezahlte Rob J. Lemuel
Weitere Kostenlose Bücher