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Medicus 02 - Der Schamane

Titel: Medicus 02 - Der Schamane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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kalten Regen lagen. Die Pfleger verbrachten den größten Teil ihrer Zeit damit, heiße Suppe zu verteilen.
    Am zweiten Nachmittag hörte der Regen auf, und die Sonne brach durch die Wolken. Rob J. begrüßte die Wärme mit großer Erleichterung, doch der Dunst, der nun entstand, verstärkte den Geruch, der von den Decks und den Menschen ausging, um ein Vielfaches. Der Gestank war fast greifbar. Manchmal, wenn das Schiff anlegte, kamen patriotische Bürger mit Decken, Wasser und Lebensmitteln an Bord. Sie blinzelten, Tränen traten ihnen in die Augen, und sie flüchteten so schnell wie möglich wieder an Land. Rob J. ertappte sich bei dem Wunsch, ein paar Fässer von Dr. Akersons Chlorwasserstoff zur Verfügung zu haben.
    Männer starben und wurden in Laken eingenäht, die vor Dreck standen. Rob J. amputierte noch in einem Dutzend weiterer Fälle, die unaufschiebbar waren, und als sie ihr Ziel erreichten, befanden sich unter den achtunddreißig Toten acht, die er operiert hatte. Sie legten früh am Dienstagmorgen in Cincinnati an. Rob J. hatte dreieinhalb Tage nicht geschlafen und so gut wie nichts gegessen. Plötzlich ohne Aufgabe, stand er auf dem Pier und sah zu, wie andere die Patienten in Gruppen aufteilten, die zu den verschiedenen Krankenhäusern gebracht wurden. Als ein Karren für das Southwestern Ohio Hospital mit Verwundeten beladen wurde, kletterte Rob J. hinauf und setzte sich zwischen zwei Tragbahren auf den Boden. Als die Patienten ausgeladen wurden, wanderte er durch das Hospital- sehr langsam, denn die Luft in Cincinnati schien so dick wie Pudding zu sein. Das Personal musterte den unrasierten Riesen, von dem ein intensiver Gestank ausging, mit scheelen Blicken. Als ein Pfleger ihn anfuhr, was er hier zu suchen habe, fragte er nach Shaman. Er wurde zu einem kleinen Balkon geführt, von dem aus man in den Operationssaal hinunterschauen konnte. Man hatte bereits begonnen, die Patienten von der War Hawk zu operieren. Vier Männer standen um einen Tisch, und Rob J. sah, dass einer von ihnen Shaman war. Eine kurze Weile sah er ihnen bei ihrer Arbeit zu, dann überschwemmte ihn eine warme Woge der Müdigkeit, und er ließ sich von ihr davontragen.
    Später erinnerte er sich nicht daran, dass er aus dem Krankenhaus in Shamans Zimmer gebracht und ausgezogen worden war. Den Rest des Tages und die ganze Nacht schlief er, ohne es zu wissen, im Bett seines Sohnes. Als Rob J. aufwachte, war es Mittwoch, und die Welt glänzte in strahlendem Sonnenschein. Während er sich rasierte und ein Bad nahm, brachte Shamans Freund, ein hilfsbereiter junger Mann namens Cooke, Rob J.’s Sachen aus der Krankenhauswäscherei, wo sie ausgekocht und gebügelt worden waren, und dann ging er, den Sohn holen. Shaman war schmaler geworden, machte jedoch einen gesunden Eindruck.
    »Hast du etwas von Alex gehört?« fragte er sofort nach der Begrüßung. »Nein.«
    Shaman nickte. Er führte Rob J. in ein Wirtshaus, das ein Stück vom Krankenhaus entfernt lag, damit sie ungestört waren. Sie aßen eine ausgiebige Mahlzeit, die aus Eiern, Kartoffeln und einem großen Stück Fleisch bestand, und tranken einen dünnen Kaffee, der zum Großteil aus getrockneter Zichorie gebraut worden war. Shaman ließ seinem Vater Zeit, den ersten heißen, bitteren Schluck zu trinken, ehe er begann, Fragen zu stellen und der Beschreibung der Reise auf der War Hawk mit großem Interesse zu folgen.
    Rob J. erkundigte sich nach den Fortschritten in der Ausbildung und sagte, wie stolz er auf seinen Sohn sei. »Zu Hause habe ich ein altes blaues Stahlskalpell, erinnerst du dich?«
    »Das uralte, das du >Rob J.s Messer< nennst? Das seit Jahrhunderten in Familienbesitz sein soll?« »Ja, das meine ich. Und es ist wirklich seit Jahrhunderten in Familienbesitz. Es wird immer an den Erstgeborenen weitergegeben, der Arzt wird. Es gehört dir.«
    Shaman lächelte. »Solltest du mit diesem Geschenk nicht warten, bis ich im Dezember die Abschlussprüfung mache?«
    »Ich weiß nicht, ob ich dann herkommen kann: Ich gehe als Arzt zur Army.«
    Shamans Augen weiteten sich. »Aber du bist Pazifist! Du hasst doch den Krieg!«
    »Das bin ich, und das tue ich«, bestätigte Rob J. mit einer Stimme, die bitterer war als der Kaffee. »Aber du siehst ja selbst, was sie einander antun.«
    Sie saßen noch lange zusammen, nippten an ihren inzwischen wieder gefüllten Tassen - zwei hochgewachsene Männer, die einander in die Augen sahen und leise und ausführlich miteinander sprachen,

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