Medicus 02 - Der Schamane
würde. »Darf ich mich zu dir setzen?« »Natürlich.«
Doch als er seinen Koffer neben dem ihren untergebracht und sich auf dem Platz am Gang niedergelassen hatte, waren beide verlegen und verkrampft.
»Neulich auf dem Waldweg, Shaman...«
»Ich fand es wunderbar«, erklärte er entschieden.
»Ich möchte nicht, dass du dir falsche Vorstellungen machst.«
Wieder! dachte er verzweifelt. »Ich habe geglaubt, du hättest es auch wunderbar gefunden«, versetzte er und spürte, wie er errötete. »Darum geht es nicht. Wir dürfen uns nicht in... so etwas hineinsteigern, denn das hat nur zur Folge, dass uns die Realität dann um so grausamer erscheint.«
»Und was ist die Realität?«
»Ich bin eine jüdische Witwe mit zwei Kindern.«
»Und?«
»Ich habe mir geschworen, nie wieder meine Eltern einen Ehemann für mich aussuchen zu lassen, aber das heißt nicht, dass ich bei meiner Wahl nicht Vernunft walten lassen werde.«
Es schmerzte. Aber diesmal würde er sich nicht abweisen lassen, ohne alles zu sagen, was ihm auf der Seele lag. »Ich habe dich fast mein ganzes Leben lang geliebt. Ich habe nie eine Frau getroffen, deren Erscheinung oder Verstand mich mehr angezogen hätte. Du hast eine Güte in dir, die ich brauche.«
»Shaman, bitte!« Sie wandte sich von ihm ab und starrte aus dem Fenster. Doch er fuhr fort. »Du hast mich dir versprechen lassen, dass ich nie im Leben resignieren werde. Und ich werde mich nicht damit abfinden, dich noch einmal zu verlieren. Ich möchte dich heiraten und Hattie und Joshua ein Vater sein.«
Sie blieb abgewandt und betrachtete die vorbeigleitende Landschaft. Er hatte gesagt, was er sagen wollte, und so nahm er jetzt eine Fachzeitschrift aus der Tasche und begann, eine Abhandlung über Symptomatik und Behandlung von Keuchhusten zu lesen. Rachel zog einen Beutel unter der Sitzbank hervor und nahm ihr Strickzeug heraus. Er sah, dass sie an einem kleinen blauen Pullover arbeitete. »Für Hattie?« »Für Joshua.« Sie sahen sich an, und es dauerte eine Weile, bis sie ihre Blicke voneinander lösen konnten. Dann wandte sich Rachel mit einem leichten Lächeln wieder ihrer Handarbeit zu. Sie waren noch keine fünfzig Meilen gefahren, da wurde es dunkel, und der Schaffner kam herein, um die Lampen zu entzünden. Gegen fünf Uhr bekamen sie Hunger. Shaman hatte ein Essenspaket dabei, das Brathühnchen und Apfelkuchen enthielt, während Rachels Verpflegung aus Brot, Käse, hartgekochten Eiern und vier kleinen Birnen bestand. Sie teilten sich den Kuchen und die Eier und Früchte und tranken Brunnenwasser aus einer Korbflasche. Nachdem der Zug in Joliet gehalten hatte, drehte der Schaffner die Lampen herunter, und Rachel schlief ein. Als sie aufwachte, lag ihr Kopf an Shamans Schulter, und er hielt ihre Hand. Sie entzog sie ihm, ließ den Kopf jedoch liegen. Kurz darauf tauchte der Zug aus der Dunkelheit der Prärie in ein Lichtermeer. Rachel setzte sich auf und richtete ihre Frisur, wobei sie die Haarnadeln zwischen ihre kräftigen weißen Zähne klemmte. Als sie fertig war, erklärte sie, sie seien in Chicago.
Vom Bahnhof nahmen sie eine Kutsche zum Palmer’s Illinois House Hotel, wo Rachels Anwalt ein Zimmer für sie hatte reservieren lassen. Shaman quartierte sich ebenfalls dort ein und bekam Zimmer Nummer 508 im fünften Stock zugewiesen. Er brachte Rachel zu ihrem Zimmer Nummer 306 und gab dem Pagen ein Trinkgeld. »Möchtest du noch etwas? Kaffee vielleicht?«
»Ich glaube nicht, Shaman. Es ist schon spät, und ich habe morgen viel zu erledigen.« Sie wollte auch nicht mit ihm frühstücken. »Wie war’s, wenn wir uns um drei Uhr hier in der Halle treffen und ich dir dann Chicago zeige?«
Er fand, das sei eine gute Idee, und verließ sie, ging in sein Zimmer hinauf, verstaute seine Sachen in Kleiderschrank und Kommode und lief dann die fünf Stockwerke wieder hinunter, um die Toilette hinter dem Hotel aufzusuchen, die erfreulich sauber und gepflegt war. Auf dem Rückweg nach oben verhielt er einen Augenblick am Treppenabsatz zum dritten Stock und schaute den Korridor entlang zu ihrem Zimmer, dann setzte er seinen Weg fort.
Am Morgen machte er sich gleich nach dem Frühstück auf die Suche nach der Bridgeton Street, die, wie sich herausstellte, in einem Arbeiterviertel mit hölzernen Reihenhäusern lag. Als er an die Tür von Nummer 237 klopfte, öffnete ihm eine verhärmt aussehende junge Frau mit einem Kind auf dem Arm, an deren Rockzipfel ein Junge hing.
Als Shaman
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