Medicus 02 - Der Schamane
sie auf ein schindelgedecktes braunes Haus. »Da haben wir gewohnt.« Shaman erinnerte sich, wie sie früher ausgesehen hatte, und beugte sich vor, um sich das Mädchen von damals in diesem Haus vorzustellen. Fünf Blocks weiter kamen sie zu einer Ansammlung von Geschäften. »Oh, wir müssen anhalten!« rief Rachel. Sie stiegen aus und betraten einen Lebensmittelladen, in dem es nach Gewürzen duftete. Ein rotwangiger alter Mann mit einem weißen Bart und einer Statur wie Shaman kam auf sie zu und wischte sich strahlend die Hände an seiner Schürze ab.
»Mrs. Regensberg! Wie schön, Sie wiederzusehen!«
»Vielen Dank, Mr. Freudenthal. Ich freue mich auch, Sie wiederzusehen. Ich möchte meiner Mutter einige Dinge mitbringen.« Sie kaufte mehrere Sorten von geräuchertem Fisch, schwarze Oliven und ein großes Stück Mandelpastete. Der Lebensmittelhändler musterte Shaman mit einem prüfenden Blick. »Ehr is nit ah yiddischeh«, bemerkte er zu ihr.
»Nein«, bestätigte sie und setzte hinzu, als habe sie das Gefühl, eine Erklärung abgeben zu müssen: »Ehr is ein guteh Freint.« Ohne die Sprache zu verstehen, begriff Shaman, was gesagt worden war. Für einen Augenblick fühlte er sich gekränkt, doch gleich darauf erkannte er, dass die Frage des alten Mannes zu ihrem Leben gehörte wie Hattie und Joshua. Als er und Rachel noch Kinder gewesen waren, hatten solche Unterschiede keine Rolle gespielt, doch jetzt waren sie beide erwachsen und mussten ihnen ins Gesicht sehen. Und so lächelte er den Lebensmittelhändler, der ihm die Tüten in die Hand drückte, freundlich an. »Auf Wiedersehen, Mr. Freudenthal!« sagte er und folgte Rachel aus dem Laden.
Sie brachten die Einkäufe ins Hotel. Es war inzwischen Zeit fürs Abendessen, und Shaman schlug vor, es im Hotel einzunehmen, doch Rachel erklärte, sie wisse ein besseres Lokal, und brachte ihn in ein kleines Restaurant, das Parkman Cafe hieß und das sie bequem zu Fuß erreichen konnten. Es war schlicht und nicht zu teuer, aber Essen und Bedienung waren gut. Als er sie nach der Mahlzeit fragte, was sie als nächstes unternehmen wolle, schlug sie einen Spaziergang am Michigansee vor.
Eine frische Brise kam vom Wasser herein, doch die Luft war sommerlich warm. Helle Sterne und die fast runde Scheibe des Mondes standen am Himmel, doch das Licht reichte nicht aus, um ihren Mund zu sehen, und so sprachen sie nicht. Bei einer anderen Frau hätte ihn das mit Unbehagen erfüllt, doch er wusste, dass Rachel sein Schweigen als selbstverständlich nahm, wenn es dunkel war.
Sie gingen den Uferweg entlang, bis Rachel unter einer Straßenlaterne stehenblieb und nach vorne auf eine gelbe Lichtquelle deutete. »Ich höre eine verrückte, lustige Musik!«
Als sie den erleuchteten Platz erreichten, bot sich ihnen ein merkwürdiger Anblick: eine geräumige runde Plattform, so groß wie der Melkplatz in einem Stall, auf der bemalte Holztiere befestigt waren; neben einer großen Kurbel stand ein Mann mit wettergegerbtem Gesicht.
»Ist das eine Drehorgel?« fragte Rachel.
»Non, das ist un carrousel. Man sucht sich ein Tier aus und reitet darauf. Tres dröle, tresplaisant«, erklärte der Mann. »Eine Fahrt kostet zwanzig Cent, mein Harr.«
Shaman setzte sich auf einen Braunbären, Rachel wählte ein leuchtendrotes Pferd. Der Franzose drehte ächzend die Kurbel, und sofort setzte sich das Karussell in Bewegung.
In der Mitte hing an einem Pfosten ein Messingring, unter dem ein Schild angebracht war, worauf stand, dass jeder mit einer Freifahrt belohnt werde, der den Ring zu fassen bekomme, während er auf einem Tier sitze. Zweifellos war er für die meisten Fahrgäste außer Reichweite, doch Shaman streckte sich, so weit er konnte. Als der Franzose sah, dass er versuchte, den Ring zu fassen, drehte er die Kurbel schneller, worauf auch das Karussell rascher lief, doch beim zweiten Versuch erwischte Shaman den Ring. Er gewann mehrere Freifahrten für Rachel.
Nach kurzer Zeit wurde der Karussellbesitzer müde, und Shaman stieg von seinem Braunbären und übernahm die Kurbel. Er drehte schneller und schneller, und das rote Pferd wechselte von Trab in Galopp. Rachel warf den Kopf zurück und kreischte vor Vergnügen wie ein Kind, wenn sie an ihm vorbeikam. Ihre weißen Zähne blitzten, doch ihr Reiz hatte nichts Kindliches. Nicht nur Shaman war bezaubert, auch der Franzose musterte sie verstohlen-fasziniert. »Sie sind die letzten clients für 1864«, sagte er. »Für diese Saison ist
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