Medicus 02 - Der Schamane
Esszimmer Platz. Rachel brachte ein neues Herbstcape aus tannengrüner Wolle herein, um es Sarah zu zeigen. »Gesponnen aus Cole-Wolle!« Ihre Mutter habe es für sie angefertigt, da ihr Trauerjahr vorüber sei, sagte sie, und alle machten Lillian Komplimente über die schöne Arbeit.
Rachel meinte, sie werde das Cape am nächsten Montag auf ihrer Reise nach Chicago tragen. »Wirst du lange fort sein?« fragte Sarah. »Nur ein paar Tage.«
»Geschäftlich«, erklärte Lillian mit deutlicher Missbilligung. Als Sarah, um das Thema zu wechseln, hastig das Aroma des englischen Tees lobte, seufzte Lillian und sagte, sie sei sehr froh, ihn zu haben. »Es gibt im ganzen Süden kaum Kaffee und keinen anständigen Tee. Jay schreibt, Kaffee und Tee kosten in Virginia fünfzig Dollar das Pfund.«
»Dann hast du also von ihm gehört?«
»Ja. Es geht ihm gut. Gott sei Dank!«
Hattie strahlte, als ihre Mutter mit dem noch ofenwarmen Nussbrot hereinkam.
»Wir haben es gemacht!« verkündete sie. »Mama hat die Zutaten in eine Schüssel getan und umgerührt, und dann haben ich und Joshua die Nüsse reingestreut.«
»Joshua und ich«, korrigierte sie die Großmutter.
»Omi, du warst ja gar nicht in der Küche!«
»Die Nüsse sind köstlich«, sagte Sarah zu dem kleinen Mädchen. »Ich und Hattie haben sie gesammelt«, erklärte Joshua stolz.
»Hattie und ich«, korrigierte ihn Lillian.
»Nein, Omi, du warst nicht dabei. Wir waren auf dem Langen Weg, und ich und Hattie haben die Nüsse gesammelt, während Mama und Shaman auf der Decke saßen und sich an den Händen hielten.« Ein kurzes Schweigen senkte sich über den Raum.
»Shaman hat Schwierigkeiten mit seiner Sprache«, sagte Rachel dann. »Er braucht wieder etwas Übung, und ich helfe ihm, wie ich es früher getan habe. Wir trafen uns auf dem Waldweg, und die Kinder machten sich derweil mit Begeisterung ans Nüssesuchen. Aber in Zukunft wird er hierher kommen, damit wir für die Übungen das Klavier benutzen können.«
Sarah nickte. »Es wird gut für Robert sein, an seiner Sprache zu arbeiten.«
Auch Lillian nickte, allerdings etwas steif. »Ja. Was für ein Glück, dass du wieder zu Hause bist, Rachel«, sagte sie und goss Shaman Tee nach.
Am nächsten Tag nahm er nach seinen Hausbesuchen den Langen Weg, und er sah Rachel kommen, obwohl er nicht mit ihr verabredet war.
»Wo sind meine Freunde?«
»Sie haben beim herbstlichen Hausputz geholfen und ihren Mittagsschlaf versäumt, und deshalb habe ich sie jetzt noch ins Bett geschickt.«
Er kehrte um und ging neben ihr her. Der Wald war voller Vögel, und auf einem Baum in der Nähe entdeckte er einen Kardinal, der herausfordernd, für ihn aber unhörbar trillerte.
»Ich habe mich mit meiner Mutter gestritten. Sie wollte, dass wir für die Feiertage nach Peoria fahren, aber ich bin nicht bereit, dort vor heiratswilligen Junggesellen und Witwern Spießruten zu laufen. Also werden wir die Feiertage zu Hause verbringen.«
»Gut«, sagte er, und sie lächelte. Es habe noch eine Auseinandersetzung gegeben, erzählte sie, weil Joe Regensbergs Cousin eine andere Frau heirate und das Angebot gemacht habe, die Regensberg Tin Company zu kaufen, nachdem er sie nicht durch Heirat in seinen Besitz habe bringen können. Das, vertraute sie Shaman an, sei auch der Grund für ihre Reise nach Chicago: Sie werde die Firma verkaufen. »Deine Mutter wird sich schon wieder beruhigen. Sie liebt dich.«
»Ich weiß, dass sie das tut. Wollen wir eine Übungsstunde abhalten?«
»Warum nicht?« Er streckte ihr die Hand hin.
Diesmal spürte er ein leichtes Zittern, als sie seine Finger in den ihren hielt. Vielleicht hatte der Hausputz sie so angestrengt oder der Streit. Doch er wagte zu hoffen, dass mehr dahintersteckte, und plötzlich lag eine Innigkeit in ihrer Berührung, die ihn veranlasste, seine Hand ganz in die ihre zu schieben.
Sie arbeiteten an der Atemkontrolle, die nötig war, um die kleinen Explosionen des Buchstaben P zu bewerkstelligen, und er wiederholte gerade mit ernstem Gesicht einen unsinnigen Satz über den Postboten Peter, der pausenlos Postpakete packte, als sie den Kopf schüttelte. »Nein. Fühl mal, wie ich es mache!« Sie legte seine Finger an ihren Kehlkopf.
Doch alles, was er fühlte, war Rachels warme weiche Haut. Er hatte es nicht geplant. Hätte er darüber nachgedacht, er hätte es nicht getan. Er ließ seine Hand aufwärts wandern, legte sie an ihre Wange und beugte sich vor, um Rachel zu küssen. Der
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