Medicus 02 - Der Schamane
Kuss war unendlich süß, der oft geträumte und ersehnte Kuss zwischen einem fünfzehnjährigen Jungen und dem Mädchen, in das er hoffnungslos verliebt war. Doch bald wurden sie zu einem Mann und einer Frau, die sich küssten, und ihr beiderseitiger Hunger erschreckte ihn dermaßen, stand so im Widerspruch zu der Absicht, eine lebenslange Freundschaft aufrechtzuerhalten, die sie ihm angeboten hatte, dass er Angst bekam, das alles für real zu nehmen.
»Rachel«, sagte er, als sie sich voneinander losrissen. »Nein! O Gott!«
Doch als sich ihre Gesichter wieder näherten, bedeckte sie seines mit kleinen, leichten Küssen - lauter heiße Regentropfen. Er küsste sie auf die Lider, die Mundwinkel und die Nase und spürte, wie ihr Körper sich an ihn drängte.
Auch Rachel war über sich selbst erschrocken. Sie legte eine zitternde Hand auf seine Wange, und er drehte den Kopf, bis er seine Lippen in ihre Handfläche drücken konnte.
Er sah sie die Worte sprechen, die ihm aus alter Zeit vertraut waren, weil sie Dorothy Burnham am Ende jedes Schultags sagte. »Ich denke, das reicht für heute«, sagte Rachel atemlos und wandte sich ab. Shaman stand da und sah ihr nach, wie sie mit schnellen Schritten davonging und um eine Biegung verschwand. An diesem Abend machte er sich daran, die letzten Tagebucheintragungen seines Vaters zu lesen. Mit großer Traurigkeit sah er dem Ende Rob J. Coles entgegen, und er ließ sich von dem schrecklichen Krieg am Ufer des Rappahannock gefangennehmen, den der Vater in seiner großen, klaren Handschrift beschrieben hatte. Als Shaman bei Rob J.s Entdeckung von Lanning Ordway anlangte, saß er eine ganze Weile da, ohne weiterzulesen. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass sein Vater nach so vielen Jahren vergeblichen Suchens schließlich Kontakt zu einem der Männer bekommen hatte, die für Makwa-ikwas Tod verantwortlich waren. Er blieb die ganze Nacht auf. Ordways Brief an Goodnow las er wieder und wieder. Kurz vor Anbruch der Dämmerung kam er zu den letzten Eintragungen des Tagebuchs kurz vor dem Tod seines Vaters. Eine einsame Stunde lang lag er angezogen auf seinem Bett. Als er seine Mutter in der Küche rumoren hörte, ging er zur Scheune hinüber und bat Alden, ins Haus zu kommen. Dann zeigte er beiden den Brief und erzählte ihnen, wo er ihn gefunden hatte.
»Aus seinem Tagebuch? Du hast sein Tagebuch gelesen?« fragte Sarah.
»Ja. Möchtest du es auch lesen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das brauche ich nicht. Ich war seine Frau. Ich kannte ihn.«
Die beiden bemerkten, dass Alden einen bösen Kater hatte, und Sarah goss für alle drei Kaffee ein. »Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll.« Shaman ließ seine Mutter und Alden den Brief lesen. »Was glaubst du denn, dass du noch tun kannst?« fragte Alden irritiert.
Er alterte rapide, bemerkte Shaman. Entweder trank er mehr als früher, oder sein Körper konnte den Whiskey nicht mehr so gut vertragen. Zitternd löffelte er sich Zucker in seine Tasse. »Dein Pa hat alles versucht, um die Sache mit der Sauk-Frau vor Gericht zu bringen. Meinst du, die werden jetzt mehr interessiert daran sein, nur weil du in dem Brief eines Toten einen Namen entdeckt hast?«
»Robert, wann wird das ein Ende finden?« fragte seine Mutter verbittert. »Dein Vater hat nie aufgehört, die Täter zu suchen, und du willst jetzt weitermachen? Die Gebeine dieser Frau liegen nun schon so viele Jahre unter der Erde - findest du nicht, dass die Tote Anspruch auf ihren Frieden hat? Kannst du den Brief nicht einfach zerreißen, den alten Schmerz vergessen, sie zur Ruhe kommen lassen - und mich auch?«
Alden schüttelte den Kopf. »Ich will nicht respektlos erscheinen, Mrs. Cole. Aber dieser Junge wird nie vernünftig sein, wenn es um die Indianer geht - genausowenig wie es der Doc war.« Er pustete auf seinen Kaffee, hob die Tasse mit beiden Händen an den Mund und trank einen Schluck, der ihm sicher den Mund verbrannte. »Nein, er wird sich darin verbeißen wie ein Hund in seine Beute. Wie sein Vater.« Er sah Shaman an. »Wenn du Wert auf einen Rat von mir legen solltest, was ich allerdings bezweifle, dann sage ich dir, dass du so bald wie möglich nach Chicago fahren solltest, um diesen Goodnow aufzusuchen und herauszufinden, ob er dir was sagen kann. Andernfalls wirst du dich immer nur quälen - und uns auch.«
Mater Miriam war nicht dieser Meinung. Als Shaman an diesem Nachmittag zum Konvent kam und ihr den Brief zeigte, nickte sie. »Ihr Vater hat mir
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