Medicus 02 - Der Schamane
unendlich lange zu dauern. Sie konnten nichts anderes tun, als bewegungslos in der Dunkelheit zu warten. Schließlich wurden die gelben Ritzen zwischen Tür und Rahmen schwarz. Der Eindringling hatte die Lampe im Gang gelöscht, damit sich seine Silhouette nicht im Türrahmen abzeichnete.
Gefangen in der vertrauten Welt vollkommener Stille, spürte Shaman einen Luftzug, als der Mann die Tür öffnete.
Und Alex’ Hand drückte auf sein Bein.
Er warf den Stiefel quer durchs Zimmer an die gegenüberliegende Wand.
Er sah das zweifache gelbe Aufblitzen, eins nach dem anderen, und versuchte, mit dem schweren Navyrevolver rechts neben die Flammenzungen zu zielen. Als er am Abzug zog, bäumte sich der Revolver in seiner Hand auf, und er nahm ihn in beide Hände, bevor er wieder und wieder schoss, die Erschütterung der Explosionen in seinen Händen und Armen, die Feuerblitze in seinen Augen, den Atem des Teufels in seiner Nase. Dann war die Munition verbraucht, er stand da, nackt und verletzlich wie nie in seinem Leben, und wartete auf den stechenden Schmerz einer Kugel.
»Bist du in Ordnung, Bigger?« rief er schließlich wie ein Narr, konnte er doch die Antwort nicht hören. Er tastete auf dem Tisch nach den Streichhölzern und zündete mit unsicheren Händen die Lampe wieder an. »Bist du in Ordnung?« fragte er Alex noch einmal, doch der deutete nur auf den Mann am Boden. Shaman war ein armseliger Schütze. Hätte der Mann andere Bedingungen gehabt, hätte er sie vermutlich beide erschossen, doch er hatte sie nicht gehabt. Shaman ging vorsichtig auf ihn zu wie auf einen erlegten Bären, dessen Tod nicht ganz sicher ist. Überall sah er Spuren seines ungeübten Schießens: Löcher in der Wand, zersplitterte Bodendielen. Die beiden Schüsse des Eindringlings hatten den Schuh verfehlt, aber den Aufsatz von Mrs. Clays Ahornkommode zerstört. Der Mann lag wie schlafend auf der Seite, ein fetter Soldat mit einem schwarzen Bart, einen überraschten Ausdruck im leblosen Gesicht. Ein Schuss hatte ihn ins linke Bein getroffen, genau an der Stelle, an der Shaman Alex amputieren musste. Eine andere Kugel steckte in der Brust direkt über dem Herzen. Als Shaman die Halsschlagader befühlte, war zwar die fleischige Kehle noch warm, aber von einem Puls war nichts mehr zu spüren.
Alex’ Kräfte schienen restlos erschöpft, er brach zusammen. Shaman saß auf dem Bett und wiegte seinen weinenden und zitternden Bruder wie ein kleines Kind in den Armen.
Alex war überzeugt, dass er wieder ins Gefangenenlager kam, wenn der Tote entdeckt würde. Er flehte Shaman an, den dicken Soldaten in den Wald zu schleppen und ihn dort zu verbrennen, so wie er es mit seinem Beinstumpf getan hatte.
Shaman tröstete ihn und klopfte ihm beruhigend auf den Rücken, behielt dabei aber einen kühlen Kopf. »Ich habe ihn getötet, nicht du. Wenn jemand Schwierigkeiten bekommt, dann bestimmt nicht du. Der Mann wird sicher vermisst werden. Der Ladenbesitzer weiß, dass er herkommen wollte - andere vielleicht auch. Das Zimmer ist demoliert, und wir brauchen Handwerker, die darüber reden werden. Wenn ich die Leiche verstecke oder verbrenne, riskiere ich, dass sie mich aufhängen. Wir werden die Leiche nicht anrühren.« Alex beruhigte sich ein wenig. Shaman saß bei ihm und redete mit ihm, bis das graue Licht des Morgens ins Zimmer kroch und er die Lampe löschen konnte. Er trug seinen Bruder hinunter ins Wohnzimmer und bettete ihn unter warmen Decken aufs Sofa. Dann legte er Holz im Ofen nach und lud den Revolver neu, den er neben Alex auf einen Stuhl legte.
»Ich komme mit Leuten von der Army zurück. Also schieß um Gottes willen erst, wenn du dir ganz sicher bist, dass nicht wir es sind!« Er sah seinem Bruder in die Augen. »Sie werden uns verhören, immer und immer wieder, getrennt und gemeinsam. Es ist wichtig, dass du bei alldem die reine Wahrheit sagst. Denn nur so können sie uns nicht das Wort im Mund umdrehen. Hast du mich verstanden?« Alex nickte, und Shaman streichelte ihm die Wange. Dann verließ er das Haus.
Der Schnee war kniehoch, und Shaman konnte den Wagen nicht nehmen. Statt dessen legte er dem Pferd einen Halfter um, den er im Stall fand, und ritt es ohne Sattel. Bis weit hinter Barnards Laden war der Weg tief verschneit, und er kam nur langsam vorwärts. Doch innerhalb der Stadtgrenze von Elmira hatte man den Schnee mit Walzen plattgedrückt, so dass er schneller reiten konnte.
Shaman fühlte sich wie erstarrt, doch nicht vor
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