Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Medicus 02 - Der Schamane

Titel: Medicus 02 - Der Schamane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
Vom Netzwerk:
dann endlich auf der anderen Seite ins Freie gelangt bin, standen diese zwei Yankees da, grinsten mich an und zielten mit ihren Gewehren auf mich. Diesmal schickten sie mich nach Maryland. Das war das schlimmste Lager. Schlechtes Essen oder gar keins, fauliges Wasser, und wenn du dem Zaun zu nahe kommst, schießen sie dich tot. Ich war wirklich froh, als sie mich von dort fortgeschafft haben. Aber dann passierte eben dieses Zugunglück.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann mich nur noch an ein lautes Knirschen erinnern und an Schmerzen im Fuß. Ich war eine Weile bewusstlos, und als ich aufwachte, hatten sie mir den Fuß schon abgeschnitten, und ich war in einem anderen Zug nach Elmira.«
    »Wie hast du es denn nach der Amputation geschafft, einen Tunnel zu graben?«
    Alex grinste. »Das war einfach. Ich hatte gehört, dass ein Trupp durch einen Tunnel raus wollte. Ich hab’ mich damals noch ziemlich stark gefühlt und hab’ einfach mitgegraben. Siebzig Meter hatten wir geschafft, direkt unter der Mauer durch. Mein Stumpf war noch nicht ganz verheilt, und beim Buddeln bekam ich immer wieder Dreck in die Wunde. Wahrscheinlich hatte ich deshalb solche Probleme mit meinem Bein. Ich konnte natürlich nicht mit ihnen raus, aber zehn Mann haben es geschafft, und ich hab’ nie gehört, dass sie wieder festgenommen wurden. Ich bin jeden Abend glücklich und zufrieden eingeschlafen, weil ich immer an die zehn freien Männer gedacht hab’.«
    Shaman atmete tief durch. »Bigger«, sagte er dann, »Pa ist tot.«
    Alex schwieg eine Weile, dann nickte er. »Ich glaube, mir war das schon klar, als ich dich mit seiner Tasche gesehen hab’. Hätte er noch gelebt, hätte er nicht dich geschickt, sondern wäre selber gekommen.« Shaman lächelte. »Ja, das stimmt.« Er erzählte seinem Bruder, wie es Rob J. Cole bis zu seinem Tod ergangen war. Während seines Berichts begann Alex, leise zu weinen, und fasste nach Shamans Arm. Danach schwiegen sie beide, Hand in Hand. Auch nachdem Alex eingeschlafen war, saß Shaman noch lange da, ohne die Hand des Bruders loszulassen.
    Es schneite bis zum späten Nachmittag. Nach Einbruch der Dunkelheit ging Shaman von einem Fenster zum anderen und spähte hinaus. Auf allen vier Seiten des Hauses glänzte das Mondlicht auf unberührtem Schnee, ohne eine Spur. Inzwischen hatte er sich auch eine Erklärung zurechtgelegt: Er vermutete, dass der dicke Soldat nach ihm gesucht hatte, weil jemand einen Arzt brauchte. Vielleicht war der Patient inzwischen gestorben, oder er hatte sich wieder erholt, oder vielleicht hatte der Mann auch einen anderen Arzt gefunden. Es klang einigermaßen einleuchtend, und es beruhigte ihn. Zum Abendessen gab er Alex eine Schüssel nahrhafter Suppe mit einem eingeweichten Kräcker dann. Sein Bruder schlief unruhig. Eigentlich hatte Shaman in dieser Nacht in dem Bett im anderen Zimmer schlafen wollen, doch er döste im Sessel neben Alex’ Bett ein. Sehr früh am Morgen - auf seiner Uhr, die neben dem Revolver auf dem Nachttisch lag, sah er, dass es zwei Uhr dreißig war- wurde er von Alex geweckt. Sein Bruder hatte sich halb aus dem Bett gestemmt und sah - die Augen weit aufgerissen - verstört umher. Unten schlägt jemand ein Fenster ein, formte er mit den Lippen. Shaman nickte. Er stand auf und nahm den Revolver vom Tisch. Die Waffe lag schwer in seiner linken Hand, ein unvertrauter Gegenstand. Die Augen auf Alex’ Gesicht gerichtet, wartete Shaman. Hatte Alex es sich nur eingebildet? Oder geträumt? Die Gästezimmertür war geschlossen. Hatte Alex vielleicht nur einen Eiszapfen zersplittern hören? Doch während Shaman so dastand, wurde sein ganzer Körper zur Hand auf dem Klavier, und er spürte die schleichenden Schritte. »Jemand ist im Haus«, flüsterte er.
    Jetzt spürte er immer deutlicher Schritte auf der Treppe - wie Töne einer aufsteigenden Tonleiter. »Er kommt die Treppe hoch. Ich werde die Lampe ausblasen.« Er sah, dass Alex verstand. Sie kannten sich in dem Gästezimmer aus, der Eindringling jedoch nicht, für sie war deshalb die Dunkelheit ein Vorteil. Shaman bekam trotzdem Angst, denn ohne Licht konnte er Alex’ Lippen nicht sehen.
    Er nahm die Hand seines Bruders und legte sie auf seinen Oberschenkel. »Wenn du hörst, dass er das Zimmer betritt, gib ein Zeichen!«, sagte er, und Alex nickte.
    Alex’ einzelner Stiefel stand auf dem Boden. Shaman nahm die Waffe in die rechte Hand, hob den Stiefel mit der linken auf und blies die Lampe aus.
    Es schien

Weitere Kostenlose Bücher