Medicus von Konstantinopel
Stadt fast ausrotten, um sie zu retten?«, fragte Wolfhart und musste sich große Mühe geben, seine Fassungslosigkeit zu verbergen.
In die Geräusche der Geschütze mischten sich auf einmal Stimmen. Wolfhart ging aus dem Gewölbe, weil er wissen wollte, was da geschah, auch wenn Darenius ihm dringend davon abriet. Innerhalb des Gewölbes hatte er die Stimmen nur ganz leise hören können, an der Anlegestelle waren sie jedoch lauter. Nun nahm er auch das Plätschern von Ruderschlägen wahr. Und dann erschallte ein schauerlicher Ruf. Es war eine Frauen- oder Kinderstimme, die plötzlich leiser wurde, so als wäre eine Tür geschlossen worden.
Theofanos saß in einer Barke, die jetzt zur Anlegestelle fuhr. Er hatte die Hände auf die Knie gestützt und wirkte wie erstarrt. Seit dem Tod seines Bruders war er nicht mehr derselbe. Er schien keine Freude mehr zu kennen, aß kaum noch etwas und hatte nicht einmal mehr Spaß daran, die Ratten zu quälen, sofern er überhaupt noch beim Kämmen der Ratten mithalf.
Wolfhart lauschte angestrengt nach den Stimmen. Er erschrak, als Theofanos zu sprechen begann.
»Gefangen«, sagte der Zwilling, »neu.« Er wiederholte die Worte zweimal und garnierte sie mit unverständlichen Lauten. Häufig genug war sich Wolfhart nicht sicher, was Theofanos meinte, aber diesmal verstand er sofort: Man hatte hoch über ihnen offenbar wieder jemanden zum Tode verurteilt und hierhergebracht.
Eine weitere Barke näherte sich aus der anderen Richtung. Es war Meister Cagliari. Er legte an und vertäute sein Boot wortlos.
Theofanos murmelte etwas vor sich hin, nachdem der Medicus hinter der Tür verschwunden war.
Wolfhart glaubte, die undeutlich gesprochenen Worte zu verstehen: »Böser Mann!«, hatte Theofanos gesagt.
»Wir müssen noch sehr viel mehr Flöhe auskämmen«, sagte Fausto Cagliari später, als er alle seine Gehilfen um sich versammelte – bis auf Theofanos, der einfach nicht bereit war, der Aufforderung zu folgen und sich dazuzugesellen, und bei den Barken sitzen blieb.
Aber Cagliari war es wohl auch nicht so wichtig, dass Theofanos dabei war. Vielleicht glaubte er, dass Theofanos ohnehin nicht richtig verstand, worum es eigentlich ging.
»Wir tun doch seit so langer Zeit nichts anderes, als den Ratten die Flöhe auszukämmen«, meinte Darenius etwas gereizt. »Unsere Ausbeute dürfte ausreichen, um Hunderttausende mit dem Schwarzen Tod zu infizieren.«
»Trotzdem brauchen wir mehr«, sagte Cagliari.
»Aber so viele Soldaten hat doch selbst der Sultan nicht!«
»Ich sagte, wir brauchen mehr!«, beharrte Cagliari. »Die Behälter sollen mit Katapulten zum Feind geschleudert werden. Alle anderen Möglichkeiten, etwa das Graben eines Tunnels oder das Einschleichen von Kundschaftern, die die Behältnisse mitführen und die Flöhe an geeigneter Stelle ausbringen, habe ich verworfen.« Cagliari ballte die Hände zu Fäusten, nachdem er sie mit einem der in Öle getränkten Tücher eingerieben hatte.
Der Geruch trieb Wolfhart selbst auf eine Entfernung von mehreren Schritten die Tränen in die Augen.
»Es nutzt uns nichts, wenn die Flöhe freigesetzt werden und ein paar Feinde anstecken. Es wird erst nach und nach eine Epidemie daraus werden. So wie auf dem Schachbrett, auf dem man auf das erste Feld ein Korn, auf das zweite zwei, auf das dritte vier legt und so weiter. Am Ende werden es unzählbar viele Körner werden – aber eben erst am Ende. Und wenn die Seuche auf diese Weise unter den Türken wütet, dann bleibt das Heer des Sultans noch lange Zeit schlagkräftig. Außerdem können sie in der Zwischenzeit Gegenmaßnahmen ergreifen. Ich will der Schlange aber mit einem einzigen Hieb den Kopf abschlagen.«
»Habt Ihr denn bei Euren Gesprächen Neues über die Lage an der Theodosianischen Mauer erfahren?«, wollte Wolfhart wissen.
»Die Lage ist im Moment nicht besorgniserregend«, behauptete Meister Cagliari. »Aber das kann sich erfahrungsgemäß im Handumdrehen ändern. Wir werden uns also beeilen müssen. Jason Argiris vertraut mir und geht davon aus, dass es uns gelingt, die Türken trotz ihrer Übermacht mit dem Schwarzen Tod zu schlagen.«
Viele Stunden waren sie damit beschäftigt, Flöhe auszukämmen. Alle außer Theofanos hatten ihre Schutzmonturen angezogen und beteiligten sich an der Arbeit. Die meiste Zeit über herrschte Schweigen. Hin und wieder gab Meister Cagliari die knappe, schroff gehaltene Anweisung, vorsichtiger zu sein und die Atemlöcher der
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