Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
Vom Netzwerk:
hingleiten.
    »Wir sind alle gleich groß«, sagte Martínez.
    »Alle gleich!« Sie lachten.
    Gómez lief an der Reihe entlang und maß die Männer hier und da mit dem raschelnden Band, so daß sie noch lauter lachten.
    »Gewiß!« sagte er. »Es hat einen Monat gedauert, vier Wochen, stellt euch das vor, um vier Burschen von derselben Größe und Figur zu finden wie ich, einen Monat bin ich herumgelaufen und habe gemessen. Manchmal fand ich welche mit einsfünfundsechzig großen Skeletten, das schon, aber sie hatten entweder zu viel Fleisch auf den Knochen oder zu wenig. Dann wieder hatten sie in den Beinen zu lange oder in den Armen zu kurze Knochen! Ich sage euch! Aber jetzt sind wir fünf, gleiche Schultern, Brust, Taille und Arme, und das Gewicht erst! Kinder!«
    Manulo, Domínguez, Villanazul, Gómez und schließlich auch Martínez traten auf die Waage, die ihnen feucht bestempelte Karten zuschnippte, während Vamenos, immer noch begeistert lächelnd, Centstücke hineinsteckte. Mit klopfendem Herzen las Martínez die Karten.
    »Einhundertfünfunddreißig Pfund… hundertsechsunddreißig… hundertdreiunddreißig… hundertvierunddreißig… hundertsiebenunddreißig… ein Wunder!«
    »Nein«, sagte Villanazul schlicht. »Gómez!«
    Sie lächelten alle dem Genius zu, der sie nun mit seinen Armen umschloß.
    »Sind wir nicht großartig?« fragte er. »Alle die gleiche Größe – alle den gleichen Traum – den Anzug. So wird jeder von uns wenigstens einmal in der Woche schick aussehen, he?«
    »Ich habe seit Jahren nicht mehr schick ausgesehen«, sagte Martínez. »Die Mädchen laufen vor mir weg.«
    »Jetzt laufen sie nicht mehr weg«, sagte Gómez. »Sie erschauern, wenn sie dich in dem kühlen Eiskrem-Anzug sehen.«
    »Gómez«, sagte Villanazul. »Ich möchte dich nur eines fragen.«
    »Nur zu, compadre.«
    »Wenn wir diesen schönen neuen weißen Eiskrem-Sommeranzug kaufen, wirst du ihn dann nicht eines Abends anziehen, mit ihm zum Greyhound-Bus gehen und ein Jahr lang nicht mehr ausziehen, wie?«
    »Villanazul, wie kannst du so was sagen?«
    »Meine Augen sehen und meine Zunge regt sich«, entgegnete Villanazul. »Wie war das mit dem Gewinn für alle, deinem Lotterietrick, mit dem du weiterarbeitetest, obwohl niemand gewann? Und was wurde aus der Vereinigten Chili-Con-Carne-und-Frijole-Gesellschaft, die du organisieren wolltest? Es passierte nichts weiter, als daß dem armseligen Büro das Geld für die Miete ausging.«
    »Dummheiten eines inzwischen erwachsenen Kindes«, sagte Gómez. »Genug davon! Bei dieser Hitze könnte uns jemand diesen tollen Anzug wegschnappen, der genau für uns gemacht ist und im Schaufenster von S HUMWAYS S OMMERANZÜGEN hängt. Wir haben fünfzig Dollar. Jetzt brauchen wir nur noch ein Skelett!«
    Martínez bemerkte, daß die anderen sich im Billardzimmer umschauten, und folgte ihren Blicken. Er fühlte, wie seine Augen über Vamenos hinwegglitten, dann widerstrebend zu ihm zurückkehrten und sein schmutziges Hemd und seine riesigen nikotingelben Finger musterten.
    »Mich«, platzte Vamenos schließlich heraus. »Mein Skelett, meßt es, es ist großartig! Sicher, ich habe vom Grabenausheben breite Arme und Hände! Aber…«
    In diesem Augenblick hörte Martínez auf dem Gehsteig draußen wieder den schrecklichen Mann mit seinen zwei Mädchen vorbeigehen; sie lachten miteinander.
    Er sah einen Ausdruck der Qual über die Gesichter der anderen Männer im Billardzimmer huschen wie den Schatten einer Sommerwolke.
    Vamenos ging langsam auf die Waage zu und warf seine Centstücke hinein. Er stand mit geschlossenen Augen da und sprach flüsternd ein Gebet.
    »Madre mía, bitte…«
    Der Mechanismus surrte; die Karte fiel heraus. Vamenos öffnete die Augen.
    »Schaut! Hundertfünfunddreißig Pfund! Noch ein Wunder!«
    Die Männer starrten auf seine rechte Hand und die Karte, auf seine linke Hand mit der schmutzigen Zehndollarnote.
    Gómez schwankte einen Augenblick und leckte sich schwitzend die Lippen. Dann griff er zu und packte das Geld.
    »Auf zum Laden! Zum Anzug! Vamos!«
    Sie liefen schreiend aus dem Billardzimmer.
    Die Frauenstimme quietschte immer noch aus dem verlassenen Telefon. Martínez, der hinter den anderen zurückgeblieben war, streckte die Hand aus und hängte die Stimme auf. In der nun eintretenden Stille schüttelte er den Kopf. »Santos, was für ein Traum! Sechs Männer, ein Anzug«, sagte er. »Was wird dabei herauskommen? Wahnsinn? Ausschweifungen? Mord? Aber

Weitere Kostenlose Bücher