Medizin für Melancholie
ich vertraue auf Gott. Gómez, warte auf mich!«
Martínez war jung. Er lief schnell.
Mr. Shumway in S HUMWAYS S OMMERANZÜGEN rückte gerade einen Krawattenständer zurecht, als er eine kaum merkliche atmosphärische Veränderung vor dem Laden wahrnahm.
»Leo«, flüsterte er seinem Gehilfen zu. »Sieh mal…«
Draußen schlenderte ein Mann – Gómez – vorbei und blickte hinein. Jetzt liefen zwei Männer, Manulo und Domínguez, vorbei und starrten ebenfalls hinein. Danach taten drei Männer, Villanazul, Martínez und Vamenos, Schulter an Schulter das gleiche.
»Leo.« Mr. Shumway schluckte. »Ruf die Polizei!«
Plötzlich füllten die sechs Männer den Eingang.
Martínez, von den andern halb erdrückt, mit leicht unruhigem Magen und fiebrigem Gesicht, lächelte Leo so hinreißend an, daß Leo den Hörer fallen ließ.
»He«, hauchte Martínez mit weit aufgerissenen Augen. »Da hinten ist ein grauer Anzug!«
»Nein.« Manulo berührte einen Rockaufschlag. »Diesen hier!«
»Es gibt auf der ganzen Welt nur einen einzigen Anzug!« sagte Gómez kalt. »Mister Shumway, vor einer Stunde war der eiskremweiße, Größe dreiundvierzig, noch in Ihrem Fenster! Er ist nicht mehr da! Sie haben ihn doch nicht…«
»Verkauft?« Mr. Shumway atmete auf. »Nein, nein. Im Ankleideraum. Er ist noch auf der Schaufensterpuppe.«
Martínez wußte nicht mehr, ob er ging und die anderen schob oder ob die anderen ihn schoben. Plötzlich waren sie alle in Bewegung. Mr. Shumway lief ihnen voraus.
»Hierher, Gentlemen. Also wer von Ihnen…«
»Alle für einen, einer für alle!« hörte Martínez sich sagen und lachte. »Wir probieren ihn alle an!«
»Alle?« Mr. Shumway packte den Vorhang vor der Kabine, als sei sein Laden ein Dampfer, der in einer mächtigen Woge zu schlingern begann. Er starrte sie an.
So ist’s recht, dachte Martínez, schau dir unser Lächeln an. Und nun sieh die Skelette hinter unserem Lächeln. Miß hier, dort, von unten nach oben und umgekehrt. Na, siehst du es jetzt?
Mr. Shumway sah. Er nickte und zuckte die Achseln.
»Alle!« Er zog den Vorhang mit einem Ruck zurück. »Da! Kaufen Sie ihn, und ich gebe Ihnen die Schaufensterpuppe umsonst dazu!«
Martínez spähte schweigend in die Kabine, und die anderen mit ihm.
Der Anzug war da.
Und er war weiß.
Martínez konnte nicht atmen. Er wollte auch gar nicht. Er brauchte nicht. Er fürchtete, der Anzug könnte in seinem Atem schmelzen. Es genügte, ihn anzusehen.
Aber schließlich atmete er tief ein und aus und flüsterte: »Ay, ay, caramba!«
»Er blendet meine Augen«, murmelte Gómez. Martínez hörte Leo flüstern: »Mister Shumway, ist es nicht eine gefährliche, noch nie dagewesene Sache, den Anzug so zu verkaufen?
Ich meine, wenn nun alle Leute nur einen Anzug für sechs Personen kaufen würden?«
»Leo«, sagte Mr. Shumway, »hast du je gehört, daß ein einziger Neunundfünfzig-Dollar-Anzug so viele Leute auf einmal glücklich macht?«
»Wie Engelsflügel«, murmelte Martínez. »Flügel weißer Engel.«
Martínez bemerkte, daß Mr. Shumway über seine Schulter in die Kabine blickte. Der helle Schimmer spiegelte sich in seinen Augen.
»Weißt du was, Leo?« sagte er ehrfurchtsvoll. »Das ist wahrhaftig ein Anzug!«
Gómez lief schreiend und pfeifend bis zum Treppenabsatz im dritten Stock hinauf, drehte sich um und winkte den anderen zu, die stolperten, lachten, stehenblieben und sich weiter unten auf die Stufen setzten.
»Heute abend!« rief Gómez. »Heute abend ziehst du zu mir, he? So sparen wir Miete und Kleidung, he? Martínez, hast du den Anzug?«
»Ob ich ihn habe?« Martínez hob den weißen Geschenkkarton hoch. »Von uns für uns! Hei!«
»Vamenos, hast du die Puppe?«
»Hier!«
Vamenos, der an einer alten Zigarre kaute und Funken verstreute, rutschte aus. Die Puppe kippte um, überschlug sich zweimal und polterte die Stufen hinunter.
»Vamenos! Mensch, bist du blöd und ungeschickt!«
Sie nahmen ihm die Puppe weg. Vamenos blickte sich betroffen um, als habe er etwas verloren.
Manulo schnippte mit den Fingern. »He, Vamenos, wir müssen feiern! Geh und spendier uns etwas Wein!«
Vamenos stürmte in einem Funkenwirbel die Treppe hinab.
Die anderen gingen mit dem Anzug ins Zimmer. Martínez blieb im Flur stehen und betrachtete Gómez’ Gesicht.
»Gómez, du siehst schlecht aus.«
»Mir ist auch schlecht«, sagte Gómez. »Was hab ich bloß gemacht?« Er nickte zu den Schatten im Zimmer hinüber, die
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