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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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Martínez. Nein, wie betäubt, durcheinander, aufgeregt, alles mögliche.
    »Gómez! Hier ist dein Zimmer!«
    Gómez drehte sich um und fand den Weg durch die Tür.
    »O Freunde, Freunde«, sagte er. »Ist das ein Erlebnis! Dieser Anzug! Dieser Anzug!«
    »Erzähl, Gómez«, bat Martínez.
    »Ich kann nicht, wie könnte ich das beschreiben!« Er blickte mit ausgebreiteten Armen, die Handflächen nach oben gekehrt, zum Himmel.
    »Erzähle, Gómez!«
    »Ich finde keine Worte. Ihr müßt es selbst erleben! Ja, ihr müßt sehen…« Er versank in Schweigen und blieb kopfschüttelnd stehen, bis er endlich gewahr wurde, daß sie ihn alle umringten und ihn ansahen. »Wer ist der nächste? Manulo?«
    Manulo, bis auf die Unterhosen entkleidet, sprang vor.
    »Fertig!«
    Alle lachten, schrien, pfiffen.
    Manulo war rasch angezogen und ging hinaus. Er blieb neunundzwanzig Minuten und dreißig Sekunden fort. Als er zurückkam, hielt er sich an den Türgriffen fest, stützte sich an die Wand, betastete seine Ellbogen und legte sich die flache Hand an die Stirn.
    »Oh, ich muß es euch erzählen«, sagte er. »Compadres, ich ging zur Bar, um einen zu trinken. Nein, ich bin nicht in die Bar gegangen, hört ihr? Ich habe nichts getrunken. Denn wie ich da so ging, fing ich an zu lachen und zu singen. Warum bloß? Ich hörte mir selbst zu und fragte mich, warum. Darum! Der Anzug wirkte stärker als Wein. Der Anzug machte mich richtig betrunken! Darum bin ich in die Refriteria Guadalajara gegangen und habe Gitarre gespielt und viele Lieder gesungen mit ganz hoher Stimme! Ach, dieser Anzug!«
    Nun zog Domínguez sich an, ging hinaus in die Welt und kam aus der Welt zurück.
    Das schwarze Telefonbuch, dachte Martínez. Er hatte es in der Hand, als er wegging. Jetzt kommt er mit leeren Händen wieder! Was heißt das?
    »Ich ging die Straße entlang«, berichtete Domínguez, der noch alles mit weit aufgerissenen Augen vor sich sah, »da rief eine Frau: ›Dominguez, bist du’s?‹ Eine andere sagte: ›Dominguez? Nein, du bist Quetzalcoatl, der Große Weiße Gott aus dem Ostens hört ihr?‹ Und auf einmal wollte ich nicht mit sechs oder acht Frauen gehen, nein, mit einer, dachte ich. Eine. Und dieser einen, was würde ich ihr wohl sagen? ›Werde mein!‹ Oder ›Heirate mich!‹ Caramba, dieser Anzug ist gefährlich! Aber es war mir gleich. Ich lebe, ich lebe! Gómez, es ist dir auch so ergangen?«
    Gómez, noch ganz benommen von den Ereignissen des Abends, schüttelte den Kopf. »Nein, nein, keine Worte. Es ist zuviel. Später. Villanazul…?«
    Villanazul trat schüchtern vor.
    Villanazul ging schüchtern hinaus.
    Villanazul kam schüchtern zurück.
    »Stellt euch vor«, sagte er. Er sah die andern dabei nicht an, sondern hatte den Blick gesenkt und sprach mit dem Fußboden. »Die grüne Plaza, eine Gruppe älterer Geschäftsleute, die sich unter den Sternen versammelt haben und sich unterhalten, nicken, reden. Jetzt flüstert einer von ihnen. Alle drehen sich erstaunt um. Sie treten zur Seite, sie machen einen Gang frei, durch den ein weißes Licht sich seinen Weg hindurchbrennt wie durch Eis. Mitten in diesem großen Licht befindet sich diese Person. Ich hole tief Atem. In meinem Magen wabbelt es. Meine Stimme ist sehr leise, aber sie wird lauter. Und was sage ich? Ich sage: ›Freunde. Kennt ihr Carlyles Sartor Resartus? In diesem Buch finden wir seine Philosophie des Anzugs…‹«
    Endlich kam für Martínez die Zeit, sich von dem Anzug hinaustreiben zu lassen und in der Dunkelheit herumzugeistern.
    Viermal ging er um den Block. Viermal blieb er unter den Eingängen der Mietshäuser stehen und sah zu einem bestimmten Fenster hinauf, hinter dem Licht brannte. Ein Schatten bewegte sich; das schöne Mädchen war dort und schon wieder verschwunden. Nach dem fünften Rundgang stand sie auf der Veranda weiter oben, von der Sommerhitze hinausgetrieben, und suchte Kühlung. Sie blickte hinunter. Sie bewegte die Hand.
    Zuerst dachte er, sie winke ihm zu. Er kam sich vor wie eine weiße Explosion, die ihren Blick auf sich zog. Aber sie winkte nicht. Ihre Hand bewegte sich wieder, und im nächsten Augenblick saß eine Brille mit dunklem Rahmen auf ihrer Nase. Sie starrte ihn an.
    Aha, dachte er, so ist das. So! Selbst Blinde können diesen Anzug sehen! Er lächelte zu ihr hinauf. Er brauchte nicht zu winken. Schließlich erwiderte sie sein Lächeln. Sie brauchte ebenfalls nicht zu winken. Da er nicht wußte, was er sonst noch tun sollte, und

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