Meeresblau
Geschrei der Seevögel. Manchmal ertönte der Motor eines Autos oder eines Fischerbootes. Es gab kaum Zerstreuung, aber es gab das Meer und Geschichten am Feuer. Salz in der Luft und eine Ursprünglichkeit, die die Zeit gleichgültig vorbeiströmen ließ. Es war das perfekte Dasein. Nach mehreren Jahren St. Andrews und dem Trubel der Stadt begriff er das umso mehr.
Seine Heimat mochte durch Marthas und Roberts Tode viel verloren haben, doch das Gefühl, zu Hause zu sein, war immer noch da. Als er in die Küche trat, sah er Jeannes Schultasche in einer Ecke liegen, umringt von herausgefallenen Heften und Büchern. Seine Schwester hatte das Abendessen nicht angerührt. Eine unheilschwangere Stimmung ließ die Luft vibrieren. Es hatte also Ärger gegeben. Wieder einmal.
Das Mädchen war inzwischen zu seiner Tochter geworden, und er war kein Bruder mehr, sondern ein Vater, der den Großteil seiner Kraft darauf verwendete, sie zu schützen. Vor dem Leben, vor der Einsamkeit und vor sich selbst.
Oben in der Dachetage warf er seine nassen Kleider in die Wanne und zog eine bequeme, schwarze Hose und ein dunkelblaues Hemd über. Er wollte sich zu Jeanne aufmachen, als aus heiterem Himmel der Juckreiz begann. Mit einem unterdrückten Fluchen balancierte er auf dem linken Bein und zerkratzte sich das rechte. Was war in letzter Zeit nur los mit seiner Haut? Eine Krankheit fehlte ihm gerade noch, jetzt, da Jeanne in der schwierigsten Phase ihres Lebens steckte und seine Nerven blank legte. Manchmal hatte er das Gefühl, ihr trotz aller Anstrengungen nicht im nötigen Maße beistehen zu können. Was, wenn seine Bemühungen nicht genügten?
Er erlaubte sich nicht, diesen Gedanken intensiver zu verfolgen. Er würde eben weiterhin tun, was getan werden musste, und das so gut er konnte. Auf gewisse Weise war es amüsant. Das Studium hatte er mühelos gemeistert, er löste Aufgaben mit einer kurzen Überlegung, über die seine Mitmenschen tagelang brüteten, und erfasste komplizierte Zusammenhänge mit spielerischer Leichtigkeit. Doch jetzt, als selbst ernannte Vaterfigur, fühlte er sich zum Scheitern verurteilt.
Jeannes Traurigkeit wehte ihm bereits entgegen, als er in das zweite Geschoss hinunterging. Seidig weich fühlten sich die Schafwollteppiche unter seinen nackten Füßen an, und so bohrte er, während er an die Zimmertür seiner Schwester klopfte, ein paar Mal die Zehen hinein.
„Kleines? Darf ich reinkommen?“
Es blieb still hinter der Tür, doch er wusste, dass sie in ihrem Zimmer war. Vor seinem inneren Auge sah er sie auf ihrem Bett hocken und mit der Entscheidung ringen, ob sie bereit für ein Gespräch war oder nicht. Vorsichtig öffnete er die Tür und fand sein geistiges Bild in die Realität versetzt.
Jeanne hob den Kopf, als er eintrat. Das Zimmer ähnelte inzwischen sehr seinem eigenen: eine behagliche Mischung aus hellen Erdfarben, dunklen Möbeln und exotischen Masken, Muscheln und Schnitzereien. Auch hier hing ein altes Fischernetz an der Wand, und über dem Bett prangte ein Gemälde von Kolumbus‘ Mayflower.
„Hi, Schwesterherz.“
In sich zusammengesunken saß sie da, die rotblonden Haare offen und so lang, dass sie das Bettzeug berührten. Ihre grünen Augen waren rot umrandet vom Weinen, ihre Arme fest um Finns Hals geschlungen. Finn, der schwarzbraune Husky, den ihre Eltern aus dem Tierheim geholt hatten, weil Jeanne ihm rettungslos verfallen war.
Stumm setzte sich Christopher zu ihr, nahm den Schneidersitz ein und hob auffordernd eine Augenbraue.
„Sieh mich nicht so an.“ Ihre sonst zarte Stimme klang wie ein Knurren.
„Wie denn?“
„So treudoof.“ Mit einem unwilligen Seufzen legte sie das Kinn auf Finns Kopf.
„Was heißt hier treudoof? Das nimmst du zurück. Sonst brate ich deinen Hund.“
„Meinetwegen.“
„Gut, wie willst du ihn? Süßsauer?“
Jeanne verpasste ihm einen Hieb in die Seite, woraufhin er beschwichtigend die Arme hob. „Komm schon, Kleines. Was war los? “
Trotzig schob sie die Unterlippe vor. Wie beschützenswert sie war. Wie verletzlich. Jedes männliche Wesen, das es auch nur wagte, seiner Schwester rüpelhaft zu kommen, würde er in der Luft zerreißen.
„Nichts, was man nicht als alltäglich bezeichnen könnte“, antwortete sie. „Es ist immer dasselbe. Ich bin die Außenseiterin. Die, mit der keiner reden will, außer es geht mal wieder darum, mich zu schikanieren. Und heute haben sie es übertrieben.“
„Was ist passiert?“
„Sie
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