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Meeresblau

Meeresblau

Titel: Meeresblau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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an denen man aufwachte und eine Märchenwelt vorfand. Von Reif überzogene Berge und zu filigranen Kunstwerken erstarrte Strandhaferbüschel. Das Meer würde sich in Dunst hüllen, Nebel das Dorf bedecken und die Schreie der Seevögel in einer großen Leere widerhallen. Sie liebte diese Zeit. Mehr als den Sommer und den Frühling, denn dann geschah es viel zu oft, dass schnatternde Touristen ihr Dorf stürmten.
    Bleiche Atemwolken ausstoßend stapften sie durch den Schlamm, der heute Morgen noch Schnee gewesen war. Nach einer Weile erreichten sie den Pfad, der in einer halbmondförmigen Windung zum Meer hinunterführte.
    „Sieh mal. Sind das nicht unglaublich viele Sterne?“
    „Mindestens eine Milliarde“, bestätigte Christopher. „Oder was meinst du?“
    Er sah sie an, und das Indigo des Nachthimmels fand sich in seinen Augen wieder. Etwas Seltsames umgab ihn. Eine Artmelancholisches Wissen und in sich ruhende Kraft. Beides war noch spürbarer geworden, seit er vor vier Wochen aus St. Andrews zurückgekehrt war. Oft hatte sie versucht, seine Besonderheit zu ergründen, nur um zu scheitern. Vielleicht wollte sie das Geheimnis auch gar nicht enthüllen. Denn die schönsten und zugleich furchterregendsten Erklärungen für Christophers Andersartigkeit waren immer noch die, in denen sie sich ausmalte, Großvaters Geschichten entsprächen der Wirklichkeit. Noch immer hörte sie seine sonore Stimme:
Sie haben ihn nicht adoptiert, so wie sie es dir und ihm gern erzählen. Sie fanden ihn am Strand zwischen Tang und Muscheln. Vom ersten Augenblick wussten deine Eltern, dass er nicht zu den Menschen gehörte. Dass er ein Geschenk war. Eine Gabe des Ozeans. Als sie ihn mitnahmen, glaubten sie, das Aufblitzen einer silberweißen Flosse zu sehen, die aus den Wellen auftauchte wie zum letzten Abschiedsgruß
.
    „Meerjungfrauen“, war Jeannes begeisterte Antwort gewesen und ihr Großvater hatte geheimnisvoll gelächelt.
    „Ja. Meerjungfrauen. Sie kennen die Menschen genau. Sie wissen, wie es in ihren Herzen aussieht. Und sie wissen, wem sie das Kostbarste anvertrauen können. Ihr eigenes Fleisch und Blut. Denn das ist ihre Angewohnheit seit ewigen Zeiten. Sie schenken Menschen ihre Kinder, lassen sie an Land aufwachsen und Liebe spüren. Liebe, die es in ihrer wahren Heimat nicht gibt. Doch wenn diese Wesen eines Tages den Ruf des Meeres hören, werden sie allem Erdbehafteten den Rücken kehren. Das Lied ihrer wahren Familie wird immer verlockender werden, bis die Kinder, die geglaubt hatten, Menschen zu sein, wieder zurückkehren. In die tiefe, blaue See. Dein Bruder ist ein Sohn des Meeres. Denk daran, Jeanne. Eines Tages wird er spüren, wohin er gehört. So, wie es Jack gespürt hat.“
    Christophers Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Lass uns dort hinuntergehen. Komm.“
    Er zog sie zu einer halsbrecherischen Treppe, die zu einer Bucht hinunterführte. Geschützt lag sie zwischen den Felsen, nur durch einen schmalen Durchlass mit dem Meer verbunden, sodass Wellen und Strömungen ihr nichts anhaben konnten. Als Jeanne die erste Stufe betrat, ließ etwas sie innehalten. „Hast du das gesehen? Da hinten? Das Helle?“
    „Nein.“ Christopher breitete die mitgebrachte Decke aus, legte sie zuerst um ihre Schultern und dann um seine eigenen. „Siehst du etwa den Geist eines verschollenen Matrosen?“
    „Nein. Ich …“
    Seine plötzliche Nähe ließ ihren Atem stocken. Sie roch das Aroma von Salz, Strand und Meer und sog es tief ihre Lungen. Er war ihr Bruder, wenn auch nicht im Blute. Ihre Verbundenheit besaß etwas Heiliges, das nicht beschmutzt werden durfte. Doch heute fiel es ihr schwer, die an die Oberfläche strebenden Gefühle zu unterdrücken.
    Weit draußen auf dem Meer, wo Wellen sich am Riff brachen, schien etwas auf einem Felsen zu sitzen. Reglos und schemenhaft. Sie machte Christopher darauf aufmerksam, doch er winkte ab.
    „Das ist sicher nur ein einsamer Basstölpel. Nichts von Bedeutung und schon gar kein Geist. Lass uns runtergehen, Schwesterherz.“
    Vorsichtig folgten sie der Treppe hinab in die Bucht, suchten Stufe für Stufe Halt auf dem glitschigen Stein. Hier unten war das Wasser ruhig, doch jenseits der Felsen tobte das Meer. So wütend warf es sich gegen die Klippen, dass sie das Beben unter den Füßen spürte. Am Strand angekommen, löste Christopher sich von ihr. Seiner Wärme beraubt, zog sie die Decke fest um die Schultern und sah der Wolke ihres Atems nach. Trotz der nie ganz

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