Meeresblau
sagten, ich würde den Tod unserer Eltern dazu benutzen, auf ewig mit Samthandschuhen angefasst zu werden. Und sie halten mich für völlig bescheuert, weil ich eine Nixe ins Matheheft gemalt habe. Kanntest du schon den Begriff Mondkalb?“
„Klar kenne ich den.“ Christopher schob Finn zur Seite und umarmte Jeanne. Mit einem verzweifelten Schluchzen umschlang sie ihn so fest, dass ihm die Luft wegblieb. „Hör einfach nicht hin“, presste er hervor. „In ein paar Monaten ist es vorbei. Dann steht dir die Welt offen.“
„Du bist wegen mir zurückgekommen.“ Jeanne schluchzte. „Du hast deine Dozentenstelle aufgegeben, weil du mich nicht allein lassen willst. Eine Stelle, für die andere ihre Seele samt der Großmutter als Bonus verkaufen würden. Das schlechte Gewissen bringt mich um.“
„Hätte ich zulassen sollen, dass sie dich in ein Heim bringen? Keine Selbstvorwürfe mehr, in Ordnung? Ich kann auch hier eine Anstellung finden.“
„Ich würde allein klarkommen.“
Jeanne blickte ihm fest in die Augen, doch hinter dieser gespielten Stärke war sie verwundbarer als je zuvor. Eine Tatsache, die ihn zutiefst rührte.
„Das würde ich.“
„Nichts da. Mach in Ruhe deinen Abschluss, ich genieße solange meine Auszeit. Übrigens fange ich ab Ende Dezember im hiesigen Institut für Meeresbiologie an. Auch nicht übel, oder?“
Jeanne nickte und sackte in sich zusammen. Dann presste sie kleinlaut hervor: „Ich hasse die Schule.“
„Ein paar Monate musst du es noch aushalten“, beschwor er sie. „Für mich, in Ordnung? Ich habe es geschafft, also wirst du es auch schaffen. Nach allem, was wir gemeinsam ertragen haben, dürfte das die kleinere Herausforderung sein.“ Er nahm Jeannes Gesicht in seine Hände und lächelte verschwörerisch. „Außerdem habe ich eine Überraschung für dich. Ich wollte sie dir gestern Abend schon verraten, aber du kamst erst so spät nach Hause und hast ausgesehen, als wolltest du im Stehen einschlafen.“
„Eine Überraschung?“ Jeanne musterte ihn mit jener wissenden Unschuld, die er nur von ihr kannte. „Was für eine Überraschung?“
„Wir gehen für drei Monate nach Südamerika.“
Sie zog die Arme zurück. „Was?“
„Ich war heute im Institut. Sie wollen mich bei ihrer Expedition dabei haben, und du wirst die persönliche Assistentin der Leiterin. Nach Weihnachten geht es los und Ende März kehren wir zurück. Natürlich nur, wenn du für die Zeit nichts Besseres vorhast.“
„Das ist nicht dein Ernst.“ Jeanne klappte der Mund auf. Kummer und Sorgen verschwanden aus ihren Augen.
„Es ist mein Ernst“, bestätigte er. „Die zuständige Expeditionsleiterin wird sich darum kümmern, dass du von der Schule freigestellt wirst. Lernen kannst du auf dem Schiff und Prüfungen holst du nach, wenn wir wieder zurück sind.“
„Wir beide fahren nach Südamerika? Wir beide auf einem Schiff?“
„Genau. Allerdings wirst du dir die Finger schmutzig machen müssen.“ Christopher schmunzelte, wusste er doch genau, dass diese Aussicht die Begeisterung seiner Schwester noch steigern würde.
„Wow“, flüsterte sie perplex.
„Gern geschehen. Ach, verdammt.“ Wieder begann sein rechtes Bein zu jucken, diesmal noch penetranter als zuvor. „Das bringt mich noch um den Verstand. Dein Hund hat mich mit Krätze angesteckt. Wir sollten ihn rasieren.“
Er schob das Hosenbein hoch und betrachtete sein verschorftes Bein. Inzwischen sah es genauso schlimm aus wie das linke.
„Jedem anderen würde ich sagen, er soll Salbe drauftun.“ Jeanne zog eine Grimasse. „Aber du bist ja gegen alles Chemische allergisch. Und hör auf, meinen Hund zu beleidigen. Finn hatte niemals Krätze. Er hat nicht mal Flöhe.“
„Ich sollte mir mal etwas Pflanzliches holen. Wenn das so weitergeht, ziehe ich mir noch die Haut ab.“ Er rang kläglich um Disziplin und schob das Hosenbein wieder hinunter. Jeanne starrte ihn an und knetete ihre Unterlippe zwischen Daumen und Zeigefinger. Kein gutes Zeichen. „Was ist los, Schwesterherz?“
Sie zuckte die Schultern. „Ich habe gesehen, wie du gestern mitten in der Nacht an den Strand gelaufen und erst im Morgengrauen wieder zurückgekommen bist. Irgendwas ist passiert. Habe ich recht?“
„Was soll passiert sein?“
„Sag du es mir. Was beschäftigt dich so sehr, dass du kaum noch schläfst?“
„Keine Ahnung.“
„Weißt du noch, das Lied, das Mom manchmal gesungen hat, wenn ich nicht einschlafen konnte?“
„Oh,
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