Meereskuss
Flasche aufblickte und sie zum ersten Mal richtig sah. Ihre ganze Kindheit hindurch hatte sie geglaubt, dass mit ihr etwas nicht stimmen konnte, weil ihre Mutter sie verlassen hatte und ihr Vater ein Säufer war. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich als Teil der Welt um sie herum fühlen wollen, normal, verbunden, ganz.
Und immer war sie sich bewusst gewesen, dass sie anders war. Mit Makeln behaftet.
In ihrer Brust war ein Knoten, und in ihrer Kehle steckte ein Kloß wie von ungeweinten Tränen. Lucy schluckte. Was, wenn … O Gott. Was, wenn Conn die Wahrheit sagte? Was, wenn sie sich wie ein Freak fühlte, weil sie ein Freak war?
Oder weil ihre Mutter ein Freak gewesen war.
Ihr Herz hämmerte vor Sehnsucht danach, es zu glauben. Panik kroch gleichzeitig über ihre Haut.
»Ich bin nicht … Ich kann nicht das sein, wofür du mich hältst.«
»Du bist die Tochter deiner Mutter.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du verstehst nicht. Ich habe Angst vor Wasser. Ich werde seekrank. Ich kann nicht einmal schwimmen.«
»Du hast ihre Kräfte. Ihre Erbanlagen. Das ist genug.«
Genug wofür?, fragte sie sich ungeduldig.
Das Seehundfell lag zwischen ihnen auf dem Boden. Unübersehbar.
»Du hättest es mir sagen können«, sagte sie aufgewühlt. »Du hättest es mir erklären können.«
»Wärest du dann mitgekommen?«
Nein.
»Vielleicht nicht«, gab sie zu. »Ich hätte jedenfalls gern die Wahl gehabt.«
Sein Mund war grimmig und sein Blick düster. »Es gibt keine Wahl. Für keinen von uns.«
[home]
6
Edith Paine, die Stadtsekretärin, steckte ihren adretten grauen Pagenkopf in Calebs Büro. Sie schrieb nicht nur für die Stadt Rechnungen und stellte Genehmigungen aus, sondern nahm tagsüber auch eingehende Notrufe an und war rund um die Uhr für die Verbreitung von Neuigkeiten auf der Insel zuständig. Caleb ging nie an ihrem Schreibtisch im Vorzimmer vorbei, ohne das Gefühl zu haben, dass er sich die Schuhe abtreten sollte.
»Sie haben ein Fax von der Seepatrouille«, verkündete sie. »Sie wollen, dass Sie die Augen nach einem Boot offen halten, das sich in Rockland losgerissen hat und nun vermisst wird. Caroline Begley vom Inn ist auf Leitung eins. Und Ihr Bruder ist hier und will Sie sprechen.«
Caleb drückte eine Tastenkombination, und der Monitor seines Computers wurde schwarz. »Danke, Edith. Ich nehme den Anruf an. Sagen Sie Dylan, dass er kurz warten soll.«
Aber Edith blieb in der Tür stehen. Sie wies mit dem Kopf auf seinen schwarzen Bildschirm. »Sie suchen nicht zufällig schon nach einer Wiege, oder?«
Calebs Gesicht rötete sich, als hätte sie ihn dabei erwischt, wie er sich auf dem städtischen Computer Pornos ansah anstatt Konstruktionszeichnungen. »Ich denke darüber nach, selbst eine zu bauen.«
Sie bedachte ihn über den Rand ihrer Brille hinweg mit einem Blick, der als anerkennend durchgehen konnte. »Frauen mögen Männer, die mit Werkzeug umgehen können.«
»Wenn Sie damit fertig sind, meinen Bruder sexuell zu belästigen«, ließ sich Dylan hinter ihr vernehmen, »dann müsste ich mit ihm sprechen.«
Caleb räusperte sich. »Später. Ich muss jetzt diesen Anruf annehmen.«
»Conn ist weg«, sagte Dylan.
Adrenalin schoss durch Calebs Adern wie ein Koffeinkick von schlechtem Kaffee. »Seit wann?«
»Wenn Sie Mr. Llyr meinen«, mischte sich Edith ein, »der ist gestern abgereist. Ohne seine Rechnung im Inn zu bezahlen. Deshalb hat Caroline angerufen. Sie wollte heute die Bettwäsche wechseln, aber sein Bett war unberührt.«
Die Brüder wechselten einen Blick.
»Danke, Edith«, erwiderte Caleb. »Würden Sie die Tür hinter sich schließen?«
»Aber Caroline –«
»Sagen Sie ihr, dass ich komme, um ihre Aussage zu protokollieren, sobald ich hier fertig bin.«
Edith rümpfte die Nase. Die Tür fiel leise hinter ihr ins Schloss.
Dylan lehnte sich mit der Hüfte an eine Ecke von Calebs Schreibtisch.
»Was weißt du darüber?«, fragte Caleb.
»Offenbar weniger als deine Sekretärin. Ich bin ins Inn gegangen, und er war weg.«
»Maggie? Regina?«
»Es geht ihnen gut«, antwortete Dylan. »Auf dem Weg hierher habe ich im Restaurant vorbeigeschaut.«
Caleb stieß die Luft aus, die er gar nicht bewusst angehalten hatte. »Lucy?«
»Sie ist krank und heute zu Hause geblieben.«
Caleb runzelte die Stirn. »Immer noch?« Selbst als sie noch Kinder waren, hatte Lucy nie mehr als einen Schultag versäumt. Caleb dachte manchmal, dass ihr ein Klassenzimmer den Halt
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