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Meereskuss

Meereskuss

Titel: Meereskuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Virginia Kantra
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das heißen?«
    »Nur, dass du stärker bist, als wir alle dachten«, gab er kühl zurück. »Was du erneut unter Beweis gestellt hast, indem du mir alles, was in dieser Kabine nicht niet- und nagelfest ist, an den Kopf geworfen hast.«
    »Das war nicht ich.«
    »Und wer dann?«
    »Ich weiß es nicht. Der Wind. Ein – wie heißt das noch gleich? – Poltergeist.«
    »Du glaubst an Geister?«
    »Und du glaubst an Selkies.«
    Er lachte. »Stimmt.«
    Sein Lachen ließ ihn nahbarer wirken, fast … Sie biss sich auf die Lippen. Fast menschlich.
    Conn betrachtete sie nachdenklich. Die Laterne verlieh der marmornen Vollkommenheit seines Gesichts Wärme und ließ die harte Linie seines Mundes weicher erscheinen. »Auf meiner Insel, auf Sanctuary, gab es früher eine Lehrerin, die den Kindern Geschichten erzählte, damit sie die Dinge besser verstanden. Tust du das auch?«
    »Manchmal«, gab sie wachsam zu.
    »Dann erzähle ich dir jetzt eine Geschichte«, sagte er. »Damit du es besser verstehst.«
    Er will etwas, dachte Lucy. Sonst wäre er nicht so freundlich.
»Du kannst mit mir reden.« »Sie behandeln dich wie ein Kind.« »Vertrau mir.«
    Sie erbebte.
    Und doch hatte sie ihn gebeten zu kommen, weil sie Antworten hören wollte. Was hatte sie zu verlieren, wenn sie ihm auch jetzt zuhörte? Vielleicht wollte es ein Teil von ihr sogar glauben … Was?
    »Du bist stärker, als wir alle dachten.«
    Und vielleicht war sie auch grenzenlos dumm.
    Die Dunkelheit war erfüllt von an- und abschwellenden Geräuschen, vom Rauschen des Windes und des Wassers. Taue ächzten. Die Kabine schwankte. Das gezackte Licht der zerbrochenen Laterne tanzte an der Decke und ergoss sich wie Gold über den Boden.
    Offensichtlich war ihr Schweigen die Zustimmung, die Conn brauchte, denn er begann nun zu sprechen. »In der Zeit vor der Zeit strich der Geist des Schöpfers über die Wasser hin«, sagte er mit seiner tiefen, hypnotischen Stimme. »Aus dem Nichts schuf er Erde, Meer und Himmel. Er machte das Licht. Und während sich jedes Element formte, nahm auch das jeweilige Volk Gestalt an: die Kinder der Erde und der See und die Kinder der Luft und des Feuers. Ihr kennt diese Geschichte auch.«
    »Äh, so in der Art.« Bart Hunter war kein Kirchgänger. Aber wie jedes andere Kind auf der Insel war Lucy in Mrs. Pruitts Ferien-Bibelschule gegangen. Sie hatte noch immer verschwommene Erinnerungen an Noahs Arche, Eis-am-Stiel-Stäbchen und Kleber. Trotzdem war sie sich ziemlich sicher, dass Mrs. Pruitts Lektionen über die Schöpfung irgendwie anders gelautet hatten. »Nur, dass Gott Adam aus Staub erschaffen hat.«
    »Der Mensch wurde später erschaffen, als die Erde Pflanzen trug und das Leben aus dem Meer an Land gekrochen kam. Nicht alle Elementargeister – die Erste Schöpfung – waren erfreut, als der Schöpfer seine Bemühungen und seine Aufmerksamkeit den Menschen widmete. Die Kinder der Luft begrüßten sein Tun wie alles andere auch. Die Kinder des Feuers lehnten sich dagegen auf. Zur gleichen Zeit zogen sich diejenigen von uns, die gezwungen waren, unser Element, unser Territorium mit den Menschen zu teilen, zurück: das Feenvolk in die Hügel und das Mervolk in die See.«
    Sie gab sich alle Mühe, ihm zu folgen. »Ihr habt euch versteckt.«
    »Wir haben uns zurückgezogen. Ja.«
    Sein kühler Ton ärgerte sie. »Und was hat dich dann nach World’s End geführt? Landurlaub?«
    Seine Miene wurde noch kälter und distanzierter. »Nein.«
    »Was dann? Was willst du von mir?«
    »Ich habe dein Gesicht gesehen«, brach es aus ihm heraus.
    Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
    »Im Wasser eines Gezeitentümpels. In einer Vision. In meinen Träumen.« Sein Blick bohrte sich in den ihren. »Ich habe dich gesehen, und wegen dir bin ich hergekommen.«
    Ihr Herz schlug schneller. Es war wie in einem Märchen. Oder in einem Traum. Sie flüsterte: »Warum?«
    Im Schatten, den die Laterne warf, waren seine Augen dunkel. »Es gibt eine Prophezeiung, nach der eine Frau aus der Linie deiner Mutter das Gleichgewicht der Elemente ändern wird. Vielleicht wird sie sogar unserem Volk die Stellung zurückgeben, die wir einst innehatten. Wir brauchen dich. Ich brauche dich.«
    Verlangen raubte ihr fast den Atem. Er sagte zu ihr, was jedes Kind zu hören bekommen sollte, was jede Frau glauben wollte.
    Jahrelang hatte Lucy darauf gewartet, gewollt zu werden. Darauf, dass ihre Mutter zurückkam, dass ihr Bruder zurückkam, dass ihr Vater von seiner

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