Meerestochter
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1. Kapitel
Ondra legte den Kopf zurück, streckte die Arme und räkelte sich. Der Nachthimmel war übersät mit Sternen, deren Licht auf den Wellen zersprang. Schäumend brach sich eine Woge über dem Felsen, auf dem sie lag. Sie leckte an ihren Füßen und überspülte warm ihren Bauch. Sie hob ihr langes Haar an, das sich im Wasser ausbreitete wie Tang. Schwer zog die Woge an den hüftlangen Strähnen, als sie sich wieder zurückzog und dabei Fels, Muscheln, Haar und Ondras nackten weißen Körper freigab.
Ondra genoss den Augenblick. Ihr Brustkorb hob und senkte sich wie das Meer. Nur das Wasser und sie – das waren die schönsten Momente. In diesem Augenblick ging ein Schauer von Spritzern auf sie nieder.
Kichernd zog ihre Freundin Aura sich neben ihr hoch und schüttelte Wassertropfen von sich.
Ondra hob die Hände vors Gesicht. «Aura, lass das!»
«Aufwachen, Schlafmütze. Weißt du nicht, dass heute Vollmond ist?» Aura ließ sich neben ihr auf den Felsen sinken.
Ondra gab keine Antwort. Der Mond stand unübersehbar am Himmel, groß, rund und gelb. Sein Widerschein auf dem Wasser war eine breite, verlockende Straße, die bis zum Strand führte. Ondra hätte blind sein müssen, um ihn nicht zu bemerken. Sie wandte den Kopf und ließ ihren Blick über das nachtdunkle Meer gleiten. Ihren Augen entging auch in der Dunkelheit nichts, kein Wirbel, kein Strom, keine Bewegung unter der Wasseroberfläche. Die Regung eines jeden Fisches in der Tiefe besaß ein pulsierendes Echo in ihrem Blut. Schließlich zuckte sie mit den Schultern.
Aura legte ihre Hand auf Ondras kühle Haut. «Hast du die Feuer nicht bemerkt?», flüsterte sie ihr ins Ohr. «Sie feiern wieder.»
«Das tun sie doch jedes Wochenende.» Ondra versuchte, desinteressiert zu klingen.
«Komm schon.» Aura gab ihr einen Schubs. «All die süßen Jungs.» Sie hob die Arme und streckte sich. «Lauter gutgebaute Schwimmer und Surfer.»
«Das klingt
so
albern, wie du das sagst.» Ondra war nicht bereit, sich von Auras Begeisterung anstecken zu lassen.
«Ach, tu doch nicht so.» Aura legte sich wieder neben sie. «Sag bloß, sie gefallen dir nicht. Ich hab doch gemerkt, wie oft du dich in letzter Zeit am Strand herumgetrieben hast.»
Statt einer Antwort zog Ondra eine Grimasse.
«Tanzen, lachen, sich drehen. Küssen», fügte Aura nach einer vielsagenden Pause hinzu. Ihre Augen glänzten silbrig. «Und du weißt, sie sind warm.»
«Warm ist jede Robbe», gab Ondra zurück. «Deine Worte.»
Aura lachte hell auf. Verärgert wandte Ondra sich ab. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie Aura zum Strand schwimmen, an Land steigen und sofort alle Blicke auf sich ziehen würde. So war das immer mit ihrer Freundin. Sie brauchte sich nur das Wasser aus ihren roten Locken zu schütteln, ihr strahlendes Lächeln aufzusetzen und sich in jenem wiegenden Raubtiergang zu bewegen, den der Vollmond ihr schenkte.
Alle Jungen würden sie anstarren, dass ihnen fast die Bierdosen aus den Händen fielen. Immer war es Aura, nur sie, die man beachtete, alle anderen waren glatt vergessen, wenn sie in der Nähe war. Und Aura würde sich den schnappen, der ihr gefiel. Da war Ondra sich sicher. Sie hatte es oft genug erlebt.
«Komm mit», fuhr Aura flüsternd fort. «Vollmond, Liebesmond. Wir können sein, was wir wollen. Heute bekommen wir alles, was wir uns wünschen.» Sie machte eine Pause. «Nox kommt auch mit.»
Nox, ausgerechnet der! Ondra verzog das Gesicht «Geh du nur.» Sie versuchte, nicht allzu spröde zu klingen, als sie hinzufügte: «Ich habe keine Lust.»
«Spielverderberin!» Aura richtete sich auf. Selbstgefällig strich sie sich über die weißen Arme. Dann hob sie die Hände über den Kopf und glitt mit einer anmutigen Bewegung ins Wasser. Es spritzte kaum, als sie eintauchte. Wenig später sah Ondra ihren Kopf über der Meeresoberfläche, ein schwarzer Umriss inmitten der glitzernden Mondbahn. «Dann bleib eben hier und versauere», hörte sie ihre Freundin noch rufen. «Ich gehe mich jedenfalls amüsieren.»
Ondra schaute ihr nach, wie sie davonschwamm, dann glitt ihr Blick weiter zum Strand, von dem Musik und Gelächter bis zu ihr herüberklangen. Alles, was wir uns wünschen, dachte sie. Ach, verdammt. Sie setzte sich auf. Die Freude an der Brandung war ihr vergangen. Aura hatte ja keine Ahnung, dachte sie. Und vermutlich war das auch besser so. Auras Wünsche waren einfach. Vermutlich machte sie jetzt schon einem
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