Meerhexe
Dann kann er für mich Lieder schreiben … und mich am Flügel begleiten …
Aber das wird wohl nichts.
Ich frage mich zum ersten Mal und mit blutendem Herzen (total kitschig, ich weiß), wie wohl die Träume der anderen Mädchen ausgesehen haben. Vielleicht ist sogar mein Traum nur ein Dutzendtraum. O Mist, Mist, Mist!
Ich bin so deprimiert, dass ich meinem Vater nur noch ruppige Antworten gebe. Woraufhin er wissen möchte, warum ich auf einmal so mürrisch bin. Was für eine Laus mir eigentlich über die Leber gekrochen sei. Da höre ich meine Mutter kommen und laufe erleichtert aus der Küche.
»Der Tisch ist schon gedeckt, das Essen ist gleich fertig!«, rufe ich ihr entgegen. Ich raffe mich zu Fröhlichkeit auf. Es hilft ja nichts.
»Fein«, sagt meine Mutter und schließt die Haustür.
»Schönen Tag gehabt?«, frage ich sie.
»Ja, sehr schön, Madeleine. Und du? Wie war die Generalprobe?« Meine Mutter begrüßt meinen Vater in der Küche, dann ist sie wieder bei mir.
Ich stöhne, weil ich nun alles von vorn erzählen darf. Und nicht einmal das Telefon stört uns dabei. Der Typ hat wahrscheinlich aufgegeben. Oder er muss mal schlafen.
Meine Mutter lacht über die Pannenschilderung. Sie zieht sich in ihrem Zimmer um und ich warte vor der angelehnten Tür auf sie. Die Verlobung will ich diesmal nicht erwähnen, aber sie rutscht mir dann doch raus.
Meine Mutter horcht auf. »Du klingst ein wenig komisch, Madeleine. Gefällt dir diese Katrin nicht?«
»Äh, doch, sicher.«
»Was ist es dann?«
»Was soll’s denn sein?« Ich bewege missmutig ihre Tür mit der Fußspitze.
Meine Mutter ist fertig und kommt heraus. »So, wie du den Ulrich Falkenhauser geschildert hast«, sagt sie im Plauderton, »so ungefähr war mal ein Klavierlehrer von mir. Jung, engagiert und sogar hübsch. In der Stunde hatte ich immer Herzklopfen. Kennst du das?«
»Ja, schon«, murmle ich.
»Lehrer sollten besser alt und hässlich sein.« Meine Mutter lacht sanft nach diesem frommen Wunsch.
»Allerdings«, fauche ich. »Und blöd und faul!« Eine Menge Wut ist in mir. Ich laufe meiner Mutter in die Küche nach. »Du kannst dich auf die Meerhexe freuen. Das heute war erst der Anfang!«
»Gut«, sagt Mama ernsthaft. Wir wechseln einen Blick, und ich weiß plötzlich, dass jemand meinen Kummer versteht. Das ist fast ein Schock, ein guter aber.
Wir setzen uns an den Tisch und schon bringt mein Vater die Pfanne. »Was war erst der Anfang?«, erkundigt er sich.
»Die große, böse Meerhexe«, sage ich und fletsche die Zähne. Dann wende ich mich an meine Mutter. »Kommen Oma und Opa auch ganz bestimmt?«
»Wahrscheinlich nur Oma. Sie haben niemanden für den Laden.«
Jetzt fällt mir plötzlich die Agentur ein. »Ach, Mama, deine Agentin hat am Nachmittag angerufen. Sie war irgendwie völlig aufgelöst. Wegen eines Briefes. Du sollst sofort zurückrufen.«
Mein Vater hebt die Augenbrauen bis unter den Haaransatz. »Irgendwie völlig aufgelöst?«, spottet er über meine Ausdrucksweise.
Mama scheint sich überhaupt nicht zu wundern. Nach einem Blick auf die Uhr schüttelt sie den Kopf und ringt sich ein gequältes Lächeln ab. »Schon zu spät«, sagt sie. »Um diese Zeit erreiche ich sie nicht mehr. Außerdem habe ich ihr bereits alles geschrieben.«
»Was hast du ihr geschrieben?«, fragt Papa verwundert. »Bin ich heute irgendwie daneben oder habt ihr seltsame Geheimnisse?«
Mama zuckt mit den Schultern. »Seltsam ist das nicht, nur neu. Ich hab’s noch nie zuvor gemacht. Ich hab eine Tournee abgesagt.«
Meinem Vater fällt das Steak von der Gabel. »Aber … aber du hast den Beethoven doch fertig … und noch dazu großartig, unvergleichlich!«
Mama schüttelt müde den Kopf. »Nicht der Beethoven. Die Frühjahrstournee.«
»Wie? Was?« Mein Vater starrt sie an.
Ich kapiere es im selben Moment. Die Frühjahrstournee mit Kenneth Smith. Die Frühjahrstournee mit Kenneth Smith!
»Schlussstrich, verstehst du?«, sagt meine Mutter mit spröden Lippen und schaut meinem Vater ins Gesicht.
»Verstehe«, murmelt Papa. Er ist ganz bleich.
Ich picke in meinem Teller herum und versuche, nicht die Luft anzuhalten. Weiteratmen, gleichmäßig, die Erde dreht sich wahrscheinlich noch.
Mein Vater räuspert sich nach einer Weile. »Weiß … Ken es schon?«
Mama nickt.
»Und wie … hat er reagiert?«
Ich beobachte meine Mutter verstohlen. Sie ist übrigens um nichts weniger bleich als mein Vater. Sie presst die Serviette an
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