Meerhexe
machen - allerdings bei meiner nicht. Ich will auch da heitere Mienen, merkt euch das!«
Die heiteren Mienen kriegt Frau Dorian sofort, alle lachen. Und sie selbst auch. Weil ich lächeln muss und sie es zufällig sieht, zwinkert sie mir zu. Das ist der Moment, in dem ich meine Wahl treffe. Dabei habe ich Sonja noch gar nicht gehört!
Die kommt jetzt aus dem Übungszimmer. Frau Dorian tritt ihr in den Weg, umarmt sie und drückt ihr einen Schmatz auf die Wange. Danach schiebt sie das Mädchen auf den Bühneneingang zu und zerquetscht ihr die Schultern, bevor sie sie loslässt. »Ich freu mich auf dich!«, sagt sie.
Von Frau Dorian geht eine ansteckende Fröhlichkeit aus, sie verändert die Atmosphäre im Saal. Es breitet sich nicht mehr dieses beklemmende Schweigen aus wie bei den Auftritten zuvor. Eine Spannung ist schon da, aber eine gute. Und als Sonja von hinten auf die Bühne kommt, empfängt sie ein richtiger Lärm, ein Klatschen und Trampeln. Frau Dorian lehnt sich zufrieden zurück wie jemand, der eben einen großen Teller Pommes serviert bekommt. Sie sieht auch aus, als würde sie einen großen Teller Pommes nicht verschmähen.
Ich kann ja kein Spanisch und verstehe deshalb überhaupt nichts von den Texten, aber dafür weiß Sonja wohl genau, wovon sie singt. Sie rollt mit den Augen und bewegt die Hände und zeigt, wie wahnsinnig spannend ihre Lieder offenbar sind. Manchmal lächeln sie und ihre Klavierbegleiterin sich an wie zwei, die eben was gemeinsam erlebt haben, wovon sie den anderen nichts erzählen wollen.
Hinterher gibt es stürmischen Applaus für Sonja und Blumen. Die werden ihr einzeln von ihren Mitstudenten überreicht und stammen aus einer Schachtel, die unter Frau Dorians Stuhl steht. Frau Dorian wirft Sonja eine Kusshand zu. Die Leute lachen, als Sonja versucht, die Blumen, die viel zu schnell kommen, zu einem Strauß zu ordnen.
Als ich später im Foyer auf meine Eltern warte, sind außer dem Hausmeister nur noch Sonja, ihre Verwandten, ein paar Mitstudenten und Frau Dorian da. Sie beratschlagen, wohin sie jetzt noch gehen sollen.
»Natürlich feiern wir«, höre ich Frau Dorian rufen. »Wer will denn jetzt schon ins Bett?!« Und ihr Gelächter folgt.
Ich entdecke am Fuß der Treppe meine Eltern und laufe hinunter. »Papa«, sage ich atemlos, »was hältst du von Frau Dorian?«
Meine Eltern sehen sich an.
»Willst du nicht erst mal erzählen, wie’s war?«, schlägt mein Vater vor.
»Ist das diese laute, unverblümte Dame?«, wendet sich meine Mutter flüsternd an ihn. »Die Dicke mit dem blondierten Kopf, die so fürchterlich lacht?«
Mein Vater nickt vorsichtig. »Über sie sind die Meinungen geteilt«, murmelt er. »Die einen lieben sie und die anderen hassen sie.«
»Wer liebt sie?«, will meine Mutter wissen.
»Ihre Schüler«, sagt mein Vater. Dann legt er den Arm um mich. »Also, Madeleine?«
»Zu ihr will ich«, sage ich bestimmt. Meine Mutter bekommt von mir einen vernichtenden Blick.
Von Atemübungen und alten Gespenstern
An der Schule weiß nur Britta, dass ich Gesangsstunden bekomme. Einmal geht sie zum Konservatorium mit und wartet vor der Tür. Ich könnte sie auch mit zu Frau Dorian hineinnehmen, aber dann würden Britta und ich wahrscheinlich vor Lachen platzen. Denn die Atemübungen und auch die Stimmbildungsübungen sind urkomisch.
Als ich nach meiner Stunde herauskomme, hockt Britta am Boden und funkelt mich an. »Endlich!«, sagt sie. »Das hat ja ewig gedauert! Und ich hab fast nichts gehört - nur das Lachen von deiner Lehrerin!«
»Dann pass mal auf.« Ich führe ihr auf der Straße ein paar Stimmbildungsübungen vor, alle mit vorgestülptem Mund auf Mua-mua-mua.
Sie klammert sich an meinen Arm. »Hör auf, Madeleine, hör auf!«, keucht sie und ist nahe am Ersticken vor Lachen.
Ich übe unbeirrt weiter. Jetzt, wie man den Atem mit einem stoßweisen Zischen herauslässt. Dazu prüfe ich mit der Hand am Bauch, wie der langsam zusammenfällt.
Britta stößt mich von sich. »Mit dir geh ich nirgendwo mehr hin«, sagt sie japsend und legt einen Sicherheitsabstand von drei Metern zwischen uns. Sie guckt sich um, ob die Leute möglicherweise auch sie verdächtigen, eine Schraube locker zu haben. Dabei achtet doch gar niemand auf uns!
Oder vielmehr doch. Ein Geigenkasten überholt uns. Er wird von einem Typ geschwungen, den ich inzwischen von den Musical-Proben her ganz gut kenne: Marcel.
»Hallo, Madeleine«, sagt er und grinst mich an. »Warst du
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