Meerhexe
leuchtenden Farben und wird zunächst fahl, dann immer dunkler, bis es rechts drüben grauschwarz brodelt. Dort steht mein Haus, aus den gebleichten Knochen von Ertrunkenen erbaut (schaurige Schädel sind darunter, an denen man sieht, dass die Theater-AG-Maler ihren Spaß an der Sache hatten).
Die ganze rechte Ecke ist mein Reich. Fische gibt es an dieser Wand nicht, sondern hässliche Polypen mit langen Fangarmen und fette Wasserschlangen.
Ich selbst trage ein violettes, sackartiges Gewand, das man an verschiedenen Stellen zugebunden und kunstgerecht mit Kissen ausgepolstert hat (ich habe einen Busen wie Miss Airbags). An meinen Händen stecken Horrorhandschuhe mit langen, gekrümmten Fingernägeln. Für meinen Kopf hat die Theater-AG sich was Besonderes einfallen lassen: Meine Perücke besteht aus lauter Schlangen. Ich könnte mich vor mir selbst fürchten, wenn ich unten mit den Inlinern nicht so komisch aussehen würde.
Als Requisiten habe ich einen bauchigen Kochkessel für meine Hexensuppe und diverse Einmachgläser, aus denen ich Sand, Erbsen, Plastikfrösche und Gummispinnen in die Suppe kippe. Und dazu aus dem Chemielabor eine Substanz, die weiße, ungiftige Dämpfe absondert. Gut sichtbar hantiere ich hinter der mit Meeresfolie überzogenen Tischreihe. Ich gebe es zu: Ich bin stolz auf meine Rolle. Wenn ich singe, was das Zeug hält, und mich dabei furchterregend hin- und herbewege, hab ich allein die ganze Aufmerksamkeit des Publikums. Solange ist vorn die Bühne auch leer. Sonst tummelt sich dort rechts auf einer hölzernen Plattform alles, was keinen Fischschwanz hat: der Prinz, sein Gefolge, später seine Braut. Und natürlich die kleine Seejungfrau, sobald sie ihre Menschenbeine hat (vorher ist sie hinten bei uns).
Die Plattform hat eine Reling und kann auf Möbelrollen weiter ins Meer geschoben werden, was sie zu einem Schiff macht. Das wird in der Sturmnacht von Blitzen umzuckt (dank unserer Beleuchtungsanlage) und von Wogen bedroht (wenn der Hausmeister mithilfe eines Kompressors Luft unter die Meeresfolie bläst).
Der Prinz klammert sich in seiner Not an die Reling, aber es hilft ihm nichts: Sobald das Licht für einen Moment ganz ausgeht, muss er mit einem Sprung bei uns hinten landen und ertrinkend an den Tischen hängen, damit die kleine Seejungfrau ihn elegant retten kann - unterstützt von Anna, die man aber nicht sehen darf.
Links vorn markieren eine Wolldecke und ein Gummibaum ein Stückchen Strand. Dort erwacht der Prinz und gähnt und streckt sich, während die kleine Seejungfrau im Hintergrund ihr sehnsuchtsvolles Liebeslied singt und anmutig dazu die weißen Arme bewegt. Die unscheinbare Regina erkennt man im glänzenden schneeweißen Body und der blonden Langhaar-Perücke nicht wieder. Leider ist das Publikum für ihre Tränen zu weit entfernt, aber wir hinten sind sehr beeindruckt davon.
Der Teil des Chors, der auf dem Schiff keinen Platz mehr findet, ist ebenfalls als Gefolge kostümiert und steht unten zwischen Bühne und Publikum. Aber nicht etwa starr, sondern in ständiger Bewegung. Das hat Ulrich toll mit ihnen eingeübt.
Er selbst sitzt auch unten vor der Bühne, am Flügel neben der Pauke.
Marcel mit seiner Geige und Andreas mit der Klarinette sind ebenfalls dort. Die Geige ist das Instrument der kleinen Seejungfrau und spielt immer, wenn sie schwimmt oder tanzt oder nur sinnierend am Ufer liegt. Die Klarinette begleitet alle Aktionen des Prinzen. Manchmal sind die Melodien von Geige und Klarinette ineinander verwoben, und ich bewundere Ulrich dafür, wie er das komponiert hat.
Aber noch besser finde ich seine Texte. Mein Vater hat recht, Ulrich ist ein Genie! Und wie er beim Sturm auf dem Flügel herumdonnert! Tobias, der einer Band angehört, schlägt die Pauke dazu, was nicht wirklich schwierig ist. Aber wenn ich singe, geht Ulrich selbst an die Pauke, da kommt es nämlich auf die Feinheiten an. Über das Meer hinweg grinst er mich dann aufmunternd an.
Stefanie ist als Dichter verkleidet, sitzt am Bühnenrand und lässt die Beine baumeln. Wie Hans Christian Andersen auf einem alten Foto trägt sie einen schwarzen Frack, darunter ein weißes Hemd mit Fliege und steifem Kragen und auf dem Kopf einen Zylinderhut. An ihrem Arm hängt ein Regenschirm, ohne den Herr Andersen angeblich nie das Haus verlassen hat. Wenn Stefanie aus dem Buch liest, legt sie den Schirm ins Meer. Und ein Seil auch. Herr Andersen, der schon über hundert Jahre tot ist, soll auch nie ohne ein
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