Meerhexe
der Zylinder zu Boden.
Als Ulrich sich irgendwie von diesen klebrigen Lippen löst, fangen Tobias, Marcel, Andreas, Lennart und Maximilian ganz albern zu klatschen an. Nadine klappt den Mund zu, Regina blinzelt die Tränen weg, Stefanie hebt den Zylinder auf. Mindestens diese drei Mädchen sind, wie ich jetzt begreife, genauso in Ulrich verliebt wie ich.
Die Kissen ersticken mich. »Mach mir mal die Kordeln auf«, zische ich Anna zu. Bevor ich ihr den Rücken zukehre, sehe ich, wie sie schmerzvoll einatmet. Sie auch!
Anna fummelt hinter mir an den Knoten herum, ich zerre an meiner Polsterung, und Ulrich grinst so selbstzufrieden, dass man ihn ins Gesicht treten könnte. Er legt einen Arm um das fremde Mädchen, beschwichtigt mit der anderen Hand den doofen Applaus der Jungs und winkt uns näher heran.
Zuerst guckt er noch in den Saal, ob da auch wirklich keiner mehr ist, dann sagt er: »Leute, jetzt seid ihr unfreiwillig Zeugen eines Geheimnisses geworden.«
Ich wollte eigentlich sein Geheimnis sein, ich! Und warum muss er sich auch noch so geschwollen ausdrücken? Die Lage ist klarer als klar!
Aber nein, Ulrich redet im selben Stil weiter. »Es ist ja eigentlich nicht besonders gut, wenn Schüler über das Privatleben eines Lehrers Bescheid wissen, sie nützen das zu gern aus. Aber ihr seid keine gewöhnlichen Schüler für mich. Wir haben wochenlang intensiv zusammengearbeitet und etwas sehr Schönes zustande gebracht. Deshalb hoffe ich, ihr könnt ein Geheimnis bewahren.«
Wir Mädchen nicken belämmert, die Jungs sehe ich grinsen.
»Das ist Katrin. Sie studiert Literatur. Sie hat die Texte für das Musical geschrieben. Und, wie findet ihr die Texte?«
Von »toll!« bis »genial!« kriegt Ulrich oder eigentlich ja Katrin sämtliche Lobeshymnen von uns (genial kommt von mir). Wir sind auf einmal wieder zum Leben erwacht und schauen Katrin mit neuen Augen an. Könnte es sein, dass ihre Zusammenarbeit mit Ulrich sich auf diese fantastischen Texte beschränkte? War der Kuss nur die Wahnsinnstat einer Durchgedrehten?
Aber Ulrich vernichtet jede aufkeimende Hoffnung. In seiner neuen, geschwollenen Art fährt er fort: »Der heutige Tag ist ein ganz besonderer. Katrin und ich nehmen ihn zum Anlass, uns zu verloben. Und ihr seid die Einzigen, die es wissen dürfen.« Er drückt Katrin fester an sich und schaut uns an, als müssten wir jetzt sofort in einen irren Jubel ausbrechen und ihn mit Glückwünschen überschütten.
Scheiße! Alles, was wir fertigbringen, ist ein höfliches, verkrampftes Lächeln. Nur die Jungs, die für nichts Antennen haben, applaudieren wieder.
Ulrich missversteht uns. Er lacht. »Warum hat’s euch denn jetzt die Sprache verschlagen? So was Einmaliges ist eine Verlobung auch wieder nicht, ich meine, so was kommt alle Tage vor. Ihr müsst nicht so andächtig gucken. Ich bin noch genauso euer Musiklehrer wie vorher, klar? Und mit dem Musical legen wir jetzt erst richtig los, Leute. Wir besprechen noch eben die kleinen Patzer, damit sie morgen nicht mehr passieren, wenn wir für die Mittelstufe die Premiere geben. Morgen sieht auch der Direktor zu, denkt dran! Und Samstagabend ist ja dann der ganz große Auftritt für die Öffentlichkeit.«
Wir sind über den ersten Schock hinweg und verhalten uns wieder ganz normal. Niemand lässt sich was anmerken. Schließlich spielen wir hier Theater und haben unseren Spaß daran. Was für ein gigantischer Tag, was für glückliche Pannen! Marcel hat seine Geige nicht zertrümmert, als er verspätet hinter die Bühne hastete, Maximilian hat sich beim Sprung von der Reling nur einen kleinen Splitter eingezogen, mehr ist nicht passiert, Regina ist unter seinem Gewicht nicht zu Schaden gekommen.
Ein paar musikalische Schnitzer gab’s auch, aber nicht von mir. Ich habe überhaupt alles richtig gemacht. Nur leider hatte ich statt Ulrich das Schlüsselerlebnis. - Nicht jedes Schlüsselerlebnis ist ein gutes.
Aus dem schönsten Moment meines Lebens bin ich in ein tiefes, dunkles Loch gefallen. Es ist auch kein Trost, nicht das einzige blöde Schaf zu sein, das Ulrich ein Dreivierteljahr lang heimlich und umsonst angehimmelt hat. Wenn ich das einzige wäre, könnte ich wenigstens vor Selbstmitleid triefen. Aber ich bin nur Dutzendware. Dafür werde ich morgen eine Meerhexe geben, die so schlimm ist, dass sogar Ulrich erzittert. Jawohl, jawohl, jawohl!
Vom Telefonterror und seiner überraschenden Aufklärung
Über der Aufregung wegen der Generalprobe
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