Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben (German Edition)
kapitel 3
stauraum im koffer
Sie sind dabei, zu einer Geschäftsreise aufzubrechen, und packen Ihren Koffer.
Stellen Sie sich zunächst vor, dass der Koffer ausreichend groß ist. Sie fangen vielleicht damit an, alle wichtigen Dinge − Toilettenartikel, die richtige Kleidung, Elektronik − hineinzulegen. Es ist noch Platz, und Sie packen noch ein paar weniger wichtige Dinge dazu, beispielsweise einen Schirm, falls es regnet. Dann noch einen Pullover, falls es kalt wird. Und die Joggingsachen, denn vielleicht bleibt diesmal Zeit, um wirklich ein wenig zu trainieren. Nun sind Sie ganz zufrieden und schließen den Koffer, in dem immer noch Platz ist. Es gibt noch viele Dinge, die Sie mitnehmen könnten, aber Ihnen genügt, was Sie eingepackt haben.
Nun stellen Sie sich stattdessen vor, dass Sie für die gleiche Reise einen kleinen Koffer packen. Wie im ersten Beispiel werfen Sie zunächst ganz lässig all die wirklich nötigen Dinge hinein. Aber damit ist der Koffer schnell gefüllt. Sie nehmen also alles wieder heraus und packen diesmal mit Methode, das heißt, Sie stapeln alles ordentlich auf. Dann werden Sie kreativ dabei, Platz zu schaffen. Sie stopfen Socken und das Handy-Ladegerät in Ihre Schuhe, entrollen Ihren Hosengürtel wieder und legen ihn an den Kofferrand. Das spart wieder ein wenig Platz. Sollen Sie den Pullover mitnehmen? Die − optimistisch gesehen sinnvollen − Joggingsachen? Den Schirm? Ist es besser, den Regen zu riskieren und sich selbst zumindest die Chance zu geben, in Form zu kommen? Das Packen eines kleinen Koffers erfordert es, abzuwägen und Kompromisse zu schließen. Nach einigen Überlegungen wählen Sie den Pullover und quetschen den Koffer zu.
Sowohl der große wie der kleine Koffer legen Ihnen Grenzen auf. Ganz gleich, wie groß ein Koffer ist: Sie können nicht alles, wasmöglicherweise nützlich ist, hineinpacken. Beide Koffer erfordern eine Auswahl, was hineinkommt und was zurückbleibt. Psychologisch gesehen sieht aber nur der kleine Koffer wirklich nach einem Problem aus. Der große Koffer kann ganz locker gepackt werden, der kleine erfordert Sorgfalt und Aufmerksamkeit.
Die Koffergeschichte ist ein Muster für viele andere Probleme im Leben. Wir haben einen »Zeitkoffer«, in den unsere Arbeit, die Freizeit und das Familienleben hineinpassen müssen. In unseren »Geldkoffer« müssen die Ausgaben für Haushalt, Kleidung, Miete und alles andere passen. Einige von uns haben sogar einen selbst auferlegten »Kalorienkoffer«, in den das gesamte Essen passen muss.
Wie unsere Geschichte zeigt, packen wir anders, wenn uns die Knappheit in den Griff bekommt: Der große Koffer wird nachlässig gepackt, in ihm ist noch viel Platz. Der kleine Koffer wird mit Sorgfalt gepackt und lässt keinen Spielraum. Knappheit ändert, wie wir mit jedem Dollar oder Euro umgehen, mit jeder Stunde und mit jeder Kalorie.
Wenn wir verstanden haben, warum wir so unterschiedlich packen, werden wir auch verstehen, wie Knappheit noch mehr Knappheit erzeugt.
kompromissdenken
Sie sitzen in einem Restaurant bei einem Abendessen mit Freunden. Der Kellner beschreibt die Spezialitäten des Tages und fragt dann, ob Sie einen Drink wollen. Üblicherweise bestellen Sie keinen Cocktail, es fällt Ihnen aber etwas auf der Getränkekarte ins Auge. Wie treffen Sie Ihre Entscheidung? Sie rechnen aus, wann Sie wieder mit dem Auto fahren müssen. Sie könnten warten, ob jemand von den Freunden Drinks bestellt. Sie könnten sich auch fragen, ob später die Rechnung geteilt wird. Sie könnten aber auch überlegen, ob 10 Dollar angemessen sind. Bemerkenswert ist aber eine Frage, die sich Ihnen nicht aufdrängt und die Sie sich nicht stellen: »Auf was muss ich verzichten, wenn ich diesen Drink bestelle?« Sie fragen sich das nicht, weil es ziemlich dumm klingt. Ihrem Gefühl nach könnten Sie den Cocktail bestellen, ohne auf irgendetwas anderes verzichten zu müssen. Es fühlt sich so an, als müssten Sie keinen Kompromiss machen.
Überlegen Sie, wie bemerkenswert das ist! Ganz grundsätzlich handelt es sich natürlich um einen Kompromiss. So reich Sie auch sein mögen, haben Sie doch immer nur ein begrenztes Vermögen. Geben Sie 10 Dollar für etwas aus, fehlen 10 Dollar für andere Dinge, selbst wenn diese »anderen Dinge« das Erbe sind, das Sie Ihren Kindern hinterlassen. Diese 10 Dollar müssen irgendwo herkommen. Aber oft fühlt es sich nicht so an. Wie viele von uns geben Sie die 10 Dollar aus, als sei dazu kein
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