Meerjungfrau
liebte.
Doch die Frau sah sie nicht. Sie tanzte einfach weiter, hielt die Hand des Kindes und winkte ihm zu, setzte die FüÃe auf das Eis und streifte manchmal fast die weiÃe Hand, die sie zu fangen versuchte.
Ein Blitz schoss durch seinen Kopf. Er konnte nichts dagegen tun, er war machtlos. Christian hielt sich die Ohren zu und schloss die Augen. Dann der Schrei. Laut und schrill stieg er aus seiner Kehle auf, traf auf das Eis und die Klippen und riss die Wunde in seiner Brust wieder auf. Als er verklungen war, nahm Christian vorsichtig die Hände von den Ohren. Er öffnete die Augen. Die Frau und das Kind waren verschwunden. Doch nun wusste er es genau. Sie würde nicht aufgeben, bevor sie ihm alles genommen hatte.
N och immer verlangte sie viel Aufmerksamkeit. Mutter trainierte stundenlang mit ihr, beugte ihre GliedmaÃen, übte mit Bildern und Musik. Seitdem sie die Situation akzeptiert hatte, setzte sie Himmel und Erde in Bewegung. Mit Alice stimmte etwas nicht.
Er wurde jedoch nicht mehr so wütend wie früher. Er hasste seine Schwester nicht dafür, dass sie Mutter so viel Zeit abverlangte. Denn ihr Blick war nicht mehr triumphierend. Sie war still und brav. Meistens saà sie allein herum und spielte mit irgendeinem Gegenstand, führte immer wieder ein und dieselbe Bewegung aus, starrte aus dem Fenster oder einfach an die Wand, wo sich etwas abzeichnete, das nur sie erkennen konnte.
Sie lernte. Zuerst sitzen, dann robben und schlieÃlich gehen. Genau wie andere Kinder. Bei Alice dauerte es nur ein wenig länger.
Hin und wieder blickte Vater ihn über ihren Kopf hinweg an. Einen winzigen Moment lang sahen sie sich in die Augen. In Vaters Blick funkelte etwas, das der Junge nicht deuten konnte. Aber er begriff, dass Vater ihn und Alice bewachte. Er wollte ihm erklären, dass das nicht nötig war. Warum sollte er ihr etwas antun? Sie war doch jetzt so lieb.
Lieben konnte er sie nicht. Er liebte nur Mutter. Aber er tolerierte Alice. Sie war nun ein Teil seiner Welt und seiner Wirklichkeit, so wie die Stimmen aus dem Fernseher, das Bett, in dem er sich abends verkroch, und das Rascheln der Zeitungen, die Vater las. Sie gehörte genauso dazu und bedeutete ihm genauso wenig.
Alice dagegen betete ihn an. Es war ihm unbegreiflich. Warum hatte sie ihn auserwählt und nicht ihre schöne Mutter? Wenn sie ihn erblickte, begann sie zu strahlen, und nur er brachte sie dazu, die Ãrmchen auszustrecken, damit sie hochgehoben und gedrückt wurde. Ansonsten mochte sie keine Berührungen. Wenn Mutter sie anfasste und sie streicheln wollte, zuckte sie oft zusammen und machte sich los. Er konnte es nicht begreifen. Hätte Mutter ihn so liebkost, wäre er mit geschlossenen Augen in ihre Arme gesunken und nie wieder aufgestanden.
Alices bedingungslose Liebe erstaunte ihn. Trotzdem erfüllte sie ihn mit einer gewissen Befriedigung. Immerhin eine wollte ihn haben. Manchmal stellte er ihre Liebe auf die Probe. In den wenigen Augenblicken, wenn Vater vergaÃ, auf die beiden aufzupassen, und auf die Toilette ging oder etwas aus der Küche holte, prüfte er, wie weit ihre Liebe ging. Er wollte wissen, wie viel er ihr antun konnte, bevor das Leuchten in ihren Augen erlosch. Manchmal kniff er sie, manchmal zog er sie an den Haaren. Einmal hatte er ihr vorsichtig einen Schuh ausgezogen und mit dem Taschenmesser, das er gefunden hatte und immer bei sich trug, ihre FuÃsohle geritzt.
Eigentlich machte es ihm keinen SpaÃ, ihr weh zu tun, aber er wusste nun einmal, wie oberflächlich Liebe sein konnte und wie schnell sie sich verflüchtigte. Zu seiner groÃen Verwunderung weinte Alice nie, sie sah ihn nicht einmal vorwurfsvoll an. Sie fand sich einfach damit ab und richtete stumm die leuchtenden Augen auf ihn.
Niemand nahm Notiz von kleineren blauen Flecken und Verletzungen an ihrem Körper. Sie tat sich ständig weh, fiel hin, stieà irgendwo an und zog sich Schnitte zu. Es war, als bewegte sie sich mit Verzögerung, und sie reagierte oft erst, wenn es zu spät war. Aber auch dann weinte sie nie.
ÃuÃerlich war nichts zu erkennen. Sogar er musste zugeben, dass sie wie ein Engel aussah. Wenn Mutter mit Alice im Kinderwagen unterwegs war â für den diese eigentlich viel zu groà war; aber sie war so langsam, wenn sie selbst ging â, äuÃerten sich fremde Menschen auf der StraÃe zu Alices Aussehen.
»Was für ein
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