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Meerjungfrau

Meerjungfrau

Titel: Meerjungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla Läckberg
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sein Haar. Dicht und dunkel, mit ein bisschen Grau durchzogen. Sie strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht.
    Der gestrige Tag war schlimm gewesen, so war es nun immer öfter. Sie wusste nie, wann er explodierte und sich über eine kleine oder große Angelegenheit fürchterlich aufregte. Gestern waren die Kinder zu laut gewesen. Dann hatte das Essen nicht geschmeckt, und sie hatte etwas im falschen Tonfall gesagt. Auf diese Weise konnte es nicht weitergehen. All das, was in ihren ersten gemeinsamen Jahren schwer gewesen war, überwog nun, und bald war nichts Gutes mehr übrig. Sie schienen mit Lichtgeschwindigkeit auf etwas Unbekanntes zuzurasen, geradewegs ins Dunkle hinein, und sie wollte Halt rufen und das Ganze stoppen. Sie wollte, dass alles wieder war wie immer.
    Trotzdem konnte sie ihn jetzt besser verstehen. Er hatte ihr einen Teil seiner Vergangenheit offenbart. So furchtbar die Geschichte auch war, hatte sie doch das Gefühl, ein wunderschön verpacktes Geschenk bekommen zu haben. Er hatte von sich selbst erzählt und etwas mit ihr geteilt, das er noch nie mit jemandem geteilt hatte. Sie wusste, was das bedeutete.
    Doch was sollte sie mit dem, was er ihr anvertraut hatte, anfangen? Sie wollte ihm helfen, darüber reden und noch mehr Dinge erfahren, die niemand sonst wusste. Doch er verriet ihr nichts mehr. Gestern hatte sie nachgebohrt, aber am Ende verließ er türenknallend das Haus. Sie wusste nicht, wann er nach Hause gekommen war. Gegen elf hatte sie sich in den Schlaf geweint, und als sie wieder aufwachte, lag er neben ihr. Es war schon fast sieben Uhr. Wenn er zur Arbeit wollte, musste er jetzt aufstehen. Sie warf einen Blick auf den Wecker. Er war nicht gestellt. Sollte sie Christian wecken?
    Unschlüssig blieb sie auf der Bettkante sitzen. Seine Augäpfel bewegten sich unter den Lidern hastig hin und her. Sie hätte alles getan, um seine Träume und die Bilder in seinem Kopf zu kennen. Sein Körper zuckte ein wenig, und das Gesicht war verzerrt. Zögernd legte sie ihm die Hand auf die Schulter. Er würde wütend werden, wenn er zu spät zur Arbeit kam, weil sie ihn nicht geweckt hatte. Aber wenn er freihatte, würde er ihr übelnehmen, dass sie ihn nicht ausschlafen ließ. Sie wünschte, sie hätte gewusst, wie sie ihn zufriedenstellen und vielleicht sogar glücklich machen konnte.
    Nils’ Stimme im Kinderzimmer ließ sie zusammenschrecken. Angsterfüllt rief er nach ihr. Sanna stand auf und horchte. Einen Moment lang dachte sie, sie hätte sich den Schrei nur eingebildet. Möglicherweise war Nils’ Stimme ein Echo ihrer Träume, in denen dauernd Kinder nach ihr riefen. Doch da war die Stimme wieder:
    Â»Mama!«
    Warum klang er so ängstlich? Sannas Herz klopfte heftig, und ihre Füße setzten sich in Bewegung. Sie warf sich den Bademantel über und raste ins Nachbarzimmer, das sich die Jungen teilten. Nils saß aufrecht im Bett. Seine Augen waren weit aufgerissen und auf die Tür gerichtet. Er hatte die Arme ausgestreckt wie ein kleiner Jesus am Kreuz. Sanna spürte den Schock wie einen kräftigen Faustschlag in den Bauch. Sie sah seine gespreizten, zitternden Finger, den Bär Bamse auf der Brust seines Lieblingsschlafanzugs, den sie schon so oft gewaschen hatte, dass er an den Bündchen ganz ausgefranst war. Sie sah die rote Farbe. Sie konnte den Anblick kaum fassen. Sie sah zu der Wand über seinem Kopf hoch, in ihr stieg, immer heftiger, ein Schrei auf und brach schließlich aus ihrer Kehle hervor:
    Â»Christian! CHRISTIAN! «
    Seine Lungen brannten. Das war ein merkwürdiges Gefühl mitten in dem Nebel, in dem er sich befand. Seit er Lisbet gestern Nachmittag tot im Bett aufgefunden hatte, bewegte er sich wie in Watte. Es war so still im Haus, als er von der Polizeidienststelle zurückkehrte. Lisbet war abgeholt worden, sie war fort.
    Er hatte überlegt, ob er woanders hinfahren sollte. Es erschien ihm unmöglich, über die Schwelle ihres gemeinsamen Heims zu treten. Aber wo sollte er hin? Er hatte niemanden. Außerdem war sie hier. In den Bildern an der Wand, den Gardinen vor den Fenstern, auf den handgeschriebenen Etiketten im Gefrierfach. Im einprogrammierten Sender, wenn er das Radio in der Küche einschaltete, und in all den seltsamen Lebensmitteln im Vorratsschrank: Trüffelöl, Dinkelkekse und eingelegtes Gemüse. Dinge, die sie hochzufrieden angeschleppt,

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