Mehr als nur ein halbes Leben
Ellenbogen nach oben und schleppe mich mit einem Kind an jeder Hand in die Grundschule von Welmont.
Die Turnhalle ist überheizt, und es bietet sich das übliche Bild. Die Mädchen sitzen alle an der Wand, lesen oder unterhalten sich oder sitzen einfach nur da und sehen den Jungen zu, die Basketball spielen und in der ganzen Halle herumtoben. Sobald ich seine Hand loslasse, rennt Charlie davon. Ich habe nicht die Willenskraft, ihn zurückzupfeifen, damit er sich ordentlich verabschiedet.
»Mach’s gut, mein Lucy-Gänschen.«
»Tschüs, Mommy.«
Ich gebe ihr einen Kuss auf ihren entzückenden kleinen Kopf und werfe die Rucksäcke auf den Haufen Schultaschen auf dem Boden. Hier drinnen halten sich keine Mütter oder Väter auf. Die anderen Eltern, die ihre Kinder morgens herbringen, kenne ich nicht. Ich kenne ein paar der Kinder dem Namen nach und weiß vielleicht, welche Eltern zu welchem Kind gehören – zum Beispiel die Frau, die Hilarys Mom ist. Doch die meisten stürzen schnell zur Tür herein und wieder hinaus, ohne Zeit für Smalltalk. Obwohl ich über niemanden von ihnen viel weiß, fühle ich mich diesen Eltern innerlich verbunden.
Die einzige Mutter, die ich bei dem Vor-Schulbeginn-Programm namentlich kenne, ist Heidi, Bens Mom, die jetzt ebenfalls auf dem Weg nach draußen ist. Heidi, immer in einem Kittel und lila Crocs, ist eine Art Krankenschwester. Ich weiß ihren Namen, weil Ben und Charlie Freunde sind, weil sie Charlie nach dem Fußball manchmal zu Hause absetzt und weil sie eine angenehme Ausstrahlung und ein aufrichtiges Lächeln hat, das im letzten Jahr oft eine ganze Menge Mitgefühl verströmt hat.
Ich habe auch Kinder. Ich kenne das.
Ich habe auch einen Job. Ich kenne das.
Ich bin auch spät dran. Ich kenne das.
Ich kenne das.
»Wie geht’s dir?«, fragt Heidi, während wir den Flur hinuntergehen.
»Gut, und dir?«
»Gut. Ich habe dich schon eine ganze Weile nicht mehr mit Linus gesehen. Er muss so groß geworden sein.«
»Oh mein Gott, Linus!«
Ohne ein Wort der Erklärung für Heidi stürze ich los, den Flur entlang, aus der Schule und die Stufen hinunter zu meinem laufenden Wagen, der zum Glück noch immer da steht. Ich kann den armen Linus wimmern hören, bevor ich die Tür auch nur berührt habe.
Bunny liegt auf dem Boden, und das DVD-Menü steht unbewegt auf dem Bildschirm, aber meine mütterlichen Ohren und mein Herz wissen, dass es bei seinem Weinen nicht um ein geliebtes Stofftier oder einen roten Muppet geht. Sobald das Video zu Ende war und Linus aus seiner magischen Trance zu sich kam, musste er begriffen haben, dass er gefangen war und allein im Wagen saß. Verlassen. Die Urangst Nummer eins eines jeden Babys in seinem Alter ist es, verlassen zu werden. Sein rotes Gesicht und sein Haaransatz sind nass von Tränen.
»Linus, entschuldige, entschuldige!«
Ich schnalle ihn ab, so schnell ich kann, während er immer noch schreit. Ich hebe ihn hoch, drücke ihn an mich und reibe ihm den Rücken. Er schmiert mir einen Rotzfleck auf den Hemdkragen.
»Schscht, ist ja gut, es ist alles gut.«
Es klappt nicht. Um genau zu sein, nehmen die geballte Kraft und Lautstärke seiner Schluchzer nur noch zu. Er ist nicht gewillt, mir so leicht zu verzeihen, und das kann ich ihm nicht verdenken. Aber wenn ich ihn nicht trösten kann, dann kann ich ihn genauso gut zur Kindertagesstätte bringen. Ich schnalle seinen verzweifelten Körper wieder auf den Autositz, setze ihm Bunny auf den Schoß, drücke auf die Starttaste des DVD-Players und fahre – während er Zeter und Mordio schreit – zur Kindertagesstätte Sunny Horizons.
Dort übergebe ich einen noch immer schluchzenden Linus und eine Windeltasche einer der Erziehungshelferinnen in der Tagesstätte, einer freundlichen jungen Brasilianerin, die neu im Sunny Horizons ist.
»Linus, schscht, es ist alles gut. Linus, bitte, Schatz, es ist alles gut«, versuche ich ihm ein letztes Mal gut zuzureden. Ich hasse es, ihn so zurückzulassen.
»Keine Sorge, Mrs. Nickerson. Es ist besser, wenn Sie einfach gehen.«
Wieder im Wagen, atme ich einmal tief aus. Endlich bin ich auf dem Weg zur Arbeit. Der Uhr auf dem Armaturenbrett zufolge ist es 7.50 Uhr. Ich werde mich verspäten. Wieder einmal. Ich beiße die Zähne zusammen, umklammere das Lenkrad und fahre vom Sunny Horizons los, während ich in meiner Tasche nach meinem Handy krame.
Meine Tasche ist peinlich groß. Je nachdem, wo und mit wem ich zusammen bin, dient sie mir als
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