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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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gesamte Rekrutierung, die Teamaufstellungen für die Fälle mit der höchsten Priorität, die Leistungsbeurteilungen und die Karriereentwicklung. Berkley Consulting verkauft Ideen, daher sind die Leute, die diese Ideen entwickeln, unsere wichtigsten Vermögenswerte und Investitionen. Eine Idee, die irgendeines unserer Teams heute entwickelt, könnte morgen leicht auf der Titelseite der New York Times oder des Wall Street Journal stehen. Die Teams von Berkley leiten oder erschaffen sogar einige der erfolgreichsten Unternehmen der Welt. Und ich erschaffe die Teams.
    Ich muss die Stärken und Schwächen jedes einzelnen Beraters und jedes einzelnen Kunden kennen, um die bestmöglichen Verknüpfungen zu entwickeln und so das Erfolgspotenzial zu maximieren. Von den Teams wird verlangt, die unterschiedlichsten Fälle (E-Commerce, Globalisierung, Risikomanagement, Einsätze) in allen möglichen Branchen (Automobil, Gesundheitswesen, Energie, Einzelhandel) zu knacken, aber nicht jeder Berater eignet sich gleich gut für jedes Projekt. Ich jongliere mit vielen Bällen – teuren, zerbrechlichen, schweren, unersetzlichen Bällen. Und genau dann, wenn ich glaube, so viele in der Luft zu haben, wie ich gerade noch handhaben kann, wirft mir einer der Partner noch einen zu. Wie ein überehrgeiziger Cirque-du-Soleil-Clown gebe ich nie zu, zu viele zu haben. Ich bin eine der wenigen Frauen, die in dieser Liga spielen, und das will ich nie in den Augen eines der Partner sehen. Da haben wir’s. Sie hat sich eben den Kopf an der Decke angestoßen. Wir haben sie überfordert. Sieh zu, ob Carson oder Joe das übernehmen können. Daher werfen sie mir immer mehr Zuständigkeiten zu, und ich fange jede einzelne mit einem Lächeln auf, wobei ich mir manchmal fast ein Bein ausreiße, damit alles leicht aussieht. Mein Job ist alles andere als leicht. Um genau zu sein, ist er sehr, sehr hart. Was wiederum genau der Grund dafür ist, dass ich ihn liebe.
    Aber selbst mit meiner jahrelangen Ausbildung und Erfahrung, meiner entschlossenen Arbeitshaltung und der Fähigkeit, gleichzeitig zu essen, zu tippen und zu reden, ist die Härte des Berufs manchmal kaum noch auszuhalten. Es gibt Tage, an denen kein Raum für Irrtümer ist, keine Zeit zum Mittagessen oder Pinkeln, keine extra Minuten, um noch ein kleines bisschen von irgendetwas aus mir herauszuquetschen. An solchen Tagen fühle ich mich wie ein prall gefüllter Ballon, der kurz vor dem Zerplatzen ist. Und genau dann wird mir Richard noch einen Fall auf meinen Stapel legen, mit einem Post-it auf der obersten Seite – Ihr Input wird so bald wie möglich benötigt –, und es macht puff. Jessica wird mir eine E-Mail mit einem Termin für eine neue Besprechung schicken, die für die einzige freie Stunde des Tages angesetzt wurde. Puff. Ich fühle mich durchschaubar, unangenehm angespannt. Abby wird anrufen. Linus hat Fieber und einen Ausschlag, und sie kann das Tylenol nicht finden. Und es macht ein letztes Mal puff.
    Wenn ich das Gefühl habe, kurz vor dem Explodieren zu sein, schließe ich meine Bürotür ab, setze mich in meinen Sessel, schwenke ihn zu dem Fenster, das auf die Boylston Street hinausgeht – nur für den Fall, dass irgendjemand hereinschauen sollte –, und gestatte mir, fünf Minuten zu weinen. Nicht mehr. Fünf Minuten leises Weinen, um die Anspannung abzubauen, und dann bin ich wieder da. Mehr brauche ich im Allgemeinen nicht, um wieder auf Draht zu sein. Ich weiß noch, wie ich mir das erste Mal gestattete, auf der Arbeit zu weinen. Es war in meinem dritten Monat hier. Ich fühlte mich schwach und schämte mich, und sobald ich mir die Augen getrocknet hatte, schwor ich mir, es nie wieder zu tun. Wie naiv. Der Stress bei Berkley – wie bei allen Consultingunternehmen dieses Kalibers – kennt keine Grenzen und setzt jedem zu. Manche Leute trinken bei Legal Sea Foods in der Mittagspause Martinis. Manche rauchen vor den Drehtüren in der Huntington Avenue Zigaretten. Ich weine fünf Minuten an meinem Schreibtisch. Ich versuche, mein tränenvolles Laster auf zweimal im Monat zu beschränken.
    Inzwischen ist es 15.40 Uhr. Ich habe das Telefongespräch beendet und trinke den Kaffee, den Jessica mir gebracht hat. Ich habe ihn gebraucht. Das Koffein bringt mein träges Blut wieder in Schwung und spritzt kaltes Wasser auf mein schläfriges Gehirn. Ich habe zehn unverplante Minuten. Wie soll ich sie füllen? Schnell werfe ich einen Blick auf meinen

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