Mehr als nur ein halbes Leben
Genesung ja auch gar nicht als Ergotherapeutin. Vielleicht glaubt sie an die Möglichkeit, weil sie meine Freundin ist. Wenn es um den Neglect geht, werde ich auf die Hoffnung einer Freundin jederzeit mehr geben als auf die vorsichtige Prognose eines Rehaarztes.
»Wie läuft’s in Baldwin?«, frage ich.
»Eigentlich so wie immer. Wir haben eine neue Frau mit einem Neglect. Sie ist zweiundsechzig und hatte einen Schlaganfall. Ihr Neglect ist viel schlimmer als deiner, und sie hat noch ein paar andere Defizite. Seit drei Wochen ist sie bei uns, und ihr ist noch immer überhaupt nicht bewusst, dass sie ihn hat. Sie denkt, dass sie völlig gesund sei. Ihre Reha wird eine echte Herausforderung werden.«
Ich denke zurück an jene ersten Tage in Baldwin, als ich die neue Frau mit einem Neglect war. Es scheint eine Ewigkeit her zu sein und kommt mir gleichzeitig vor, als wäre es erst gestern gewesen. Ohne irgendetwas über diese neue Frau mit dem Neglect zu wissen, fühle ich mich ihr innerlich verbunden. Es ist, als ob ich von jemandem höre, der in Middlebury oder auf der Harvard Business School war, oder jemanden aus Welmont treffe. So verschieden wir vielleicht auch sein mögen, so teilen wir doch eine ähnliche Lebenserfahrung.
Inzwischen gibt es Zeiten, in denen ich vergesse, dass ich einen linksseitigen Neglect habe, aber nicht wegen eines fehlenden Bewusstseins wie am Anfang. Ich weiß, dass ich ihn habe. Daher probiere ich gar nicht erst, ohne meinen Stock zu gehen, weil ich glaube, dass mein linkes Bein noch funktioniert. Ich weiß, dass ich Hilfe beim Anziehen brauche, daher versuche ich es lieber nicht allein, um nicht mit halb angezogenem Hemd und einem linken Hosenbein, das hinter mir herschleift, aus dem Haus zu gehen. Und ich benutze den Herd nicht, weil ich weiß, dass es gefährlich ist (nicht dass ich ihn früher oft benutzt hätte). Ich weiß, dass ich mir ständig in Erinnerung rufen muss, dass es eine linke Seite gibt, dass ich eine linke Seite habe, dass ich nach links sehen, links suchen und nach links gehen muss und dass es – selbst wenn ich es tue – gut möglich ist, dass ich immer noch nur das wahrnehme, was auf der rechten Seite ist.
Aber wenn ich nicht gerade laufe, lese oder nach den Karotten auf meinem Teller suche, sondern mich im Wintergarten entspanne, mit den Kindern rede oder mit einer Freundin auf dem Sofa ein Glas Wein trinke, dann fühle ich mich rundum gesund. Ich habe nicht das Gefühl, dass irgendetwas mit mir nicht stimmt. Ich bin keine Frau mit einem Neglect. Ich bin Sarah Nickerson.
»Wie geht es Martha?«, frage ich.
»Oh, sie vermisst dich schrecklich«, antwortet Heidi lächelnd.
»Das glaube ich gern.«
»Ich bin froh, dass wir endlich die Zeit hierfür gefunden haben«, sagt sie.
»Ich auch.«
Seit ich aus Baldwin zurück bin, hat Heidi mich mindestens einmal pro Woche angerufen, um zu hören, wie es mir geht. Und sie ist oft vorbeigekommen, meistens, wenn sie Charlie nach dem Basketball nach Hause gefahren hat. Aber bei ihrem Dienstplan und weil ich jedes Wochenende und jeden freien Schultag in Vermont verbringe, hatten wir bis jetzt noch keine Zeit für unseren Weinabend gefunden – und wir haben fast Ende März.
»Euer Haus ist wirklich entzückend«, sagt sie, während sie sich im Wohnzimmer umsieht.
»Danke.«
»Ich kann gar nicht glauben, dass ihr vielleicht von hier wegzieht.«
»Ich weiß. Es wird eine große Veränderung sein, wenn es dazu kommt.«
»Erzähl mir von dem Job.«
»Es ist eine Stelle als Entwicklungsleiterin beim NEHSA. Ich werde dafür zuständig sein, Strategien für die Spendenbeschaffung zu entwickeln und auszubauen. Das heißt, Firmensponsoren und Spender zu finden, Beziehungen zu nutzen, um das Programm zu vermarkten, und Förderanträge zu schreiben. Es sind zwanzig Wochenstunden, und mindestens die Hälfte dieser Stunden könnte ich von zu Hause aus arbeiten.«
»Das klingt nach dem idealen Job für dich.«
Da hat sie recht. Die ganzen betriebswirtschaftlichen Fähigkeiten, die ich auf der Harvard Business School und bei Berkley erworben habe, machen es mir möglich, bei diesem Job gute Arbeit zu leisten. Und durch meine Behinderung habe ich das nötige Einfühlungsvermögen und die Erfahrung von jemandem, der selbst vom NEHSA profitiert hat, um den Job mit Leidenschaft zu erledigen. Ich leiste einen notwendigen Beitrag in einer wichtigen Organisation, an die ich glaube. Und die Arbeitszeiten sind ideal.
»Und was
Weitere Kostenlose Bücher