Mehr als nur ein halbes Leben
doch, dass ich diesmal auch noch jemand anderem danken sollte.
Ich verlasse Linus’ Zimmer so leise wie möglich und gehe die Treppe hinunter, durch das Wohnzimmer und in den Wintergarten. Ich will gerade schon klopfen, als ich glaube, eins der Kinder zu hören. Oh nein, vermutlich habe ich Linus aufgeweckt. Aber nach einer Sekunde Lauschen wird mir klar, dass das Geräusch aus dem Wintergarten kommt.
»Mom?« Ich trete ein, ohne ihre Erlaubnis abzuwarten.
Sie liegt auf dem Bett, unter ihrer Quiltdecke zusammengerollt, von einem Haufen zerknüllter weißer Taschentücher umgeben. Sie weint.
»Was ist denn?«, frage ich.
Sie dreht sich zu mir herum, nimmt sich ein frisches Taschentuch und drückt es sich auf die Augen.
»Ach, mir ist das heute einfach so nahegegangen.«
»Mir auch«, sage ich.
Ich setze mich zu ihr auf die Bettkante.
»Ich glaube, mein Herz hätte es nicht verkraftet, wenn ihm etwas zugestoßen wäre«, fährt sie fort.
»Meins auch nicht.«
»Du weißt es nicht, Sarah. Ich hoffe, du wirst nie wissen, wie es ist.«
Jetzt wird mir klar, dass es für meine Mutter heute nicht nur um Linus ging.
»Ich hätte dich in diesem Spielzeuggeschäft nicht allein lassen sollen«, schnieft sie.
»Nein, ich hätte auf ihn aufpassen sollen.«
»Ich hätte da sein sollen.«
»Du warst da, als es darauf ankam. Du hast ihn gefunden. Es geht ihm gut.«
»Was, wenn ich ihn nicht zufällig gesehen hätte? Ich muss ständig daran denken, was hätte passieren können.«
»Ich auch.«
»Ich hätte bei dir bleiben sollen.«
Sie beginnt zu schluchzen.
»Ist ja gut, Mom. Es geht ihm gut. Ich habe eben nach ihm gesehen. Er schläft und träumt von Zügen. Es geht uns allen gut.«
»Es tut mir leid, dass ich nicht für dich da war.«
»Das warst du doch.«
»Nein, für dich. All die Jahre. Es tut mir so leid.«
Sie zieht das letzte Taschentuch aus der Packung und putzt sich weinend die Nase. Es gibt nicht genug Taschentücher für den Schmerz, mit dem sie gelebt hat. Ich umfasse ihren Nacken mit der rechten Hand und drücke sie fest an mich.
»Ist ja gut, Mom. Ich verzeihe dir. Jetzt bist du ja hier. Danke, dass du jetzt hier bist.«
Ihr weinender Körper beruhigt sich, während ich sie in meinen Armen halte. Als sie schließlich ruhig ist, lege ich mich zu ihr und schlafe ein.
SIEBENUNDDREISSIGSTES KAPITEL
----
Heidi öffnet die Flasche Wein, die sie mir an meinem letzten Tag in Baldwin überreicht hat, und schenkt uns zwei Gläser ein. Dann trägt sie die beiden Gläser, während ich meinen Gehstock »trage«. Ich kann spüren, wie sie mich beobachtet, während wir von der Küche ins Wohnzimmer gehen.
»Dein Gang ist schon viel besser«, stellt sie fest. »Viel geschmeidiger und viel weniger schleppend.«
»Danke«, sage ich, verblüfft von dem Kompliment.
Vieles geht jetzt viel geschmeidiger und weniger schleppend als vor viereinhalb Monaten – das Essen auf der linken Seite meines Tellers zu finden, mit dem linken Arm in den linken Ärmel zu schlüpfen, zu tippen und zu lesen. Aber die Verbesserungen stellen sich nicht über Nacht ein. Sie sind langsam, klein, still und verstohlen und bauen sich erst nach Wochen und Monaten – nicht binnen Tagen – zu etwas Bemerkenswertem auf. Daher war mir gar nicht aufgefallen, dass sich mein Gang seit Baldwin verbessert hat. Es ist schön, das zu hören.
Wir setzen uns aufs Sofa, und Heidi reicht mir meinen Wein.
»Auf deine fortschreitende Genesung.« Sie erhebt ihr Glas.
»Darauf werde ich auf jeden Fall trinken.« Ich halte mein Glas vor mir hoch, warte jedoch darauf, dass Heidi das Anstoßen übernimmt (ich würde vermutlich nicht treffen und ihr meinen ganzen Wein übers Kleid schütten).
Sie stößt mit mir an, und wir trinken auf meine fortschreitende Genesung. Im Moment ist sie von den Ärzten und Pflegekräften vermutlich die Einzige, die aufrichtig glaubt, dass das möglich ist. Alle anderen sagen entweder gar nichts, vermeiden irgendwelche konkreten Prognosen, oder sie sagen: »Vielleicht …«, ertränken dieses »Vielleicht …« dann jedoch in einer Liste von Abers, Einschränkungen und »Ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen«-Reden. Und Leugnen ist ein großes Problem. Niemand will, dass ich im Zustand des Leugnens lebe, dass ich weiterhin glaube, ich könnte gesund werden, wenn die Chancen dafür doch so überwältigend schlecht stehen. Gott behüte. Aber vielleicht hegt Heidi die Hoffnung auf meine vollständige
Weitere Kostenlose Bücher