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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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Zeit, Geräusche und das Leben selbst verzerren sich und verschwimmen um mich herum, während ich stehen bleibe und auf die Straße sehe. Die Main Street. Jetzt am Spätnachmittag ist sie stark befahren: von übermüdeten Fahrern, Fahrern mit Handys am Ohr, Fahrern, die nicht damit rechnen, dass ihnen ein Kleinkind vors Auto läuft. Ich stehe am Rand des Gehsteigs und suche die Straße nach dem Grauen ab, das sich mein Kopf bereits ausmalt. Meine Beine sind wie erstarrt. Genau genommen fühlt sich jede Zelle von mir wie erstarrt an – meine linke Seite, meine rechte Seite, mein Herz, meine Lunge, selbst mein Blut –, als hätte jeder bewegliche, lebendige Teil von mir auf einmal innegehalten, um zu beobachten, was sich gleich abspielen wird, als würde ihre eigene Existenz an einem seidenen Faden hängen. Ich kann ihn nirgends sehen. Er ist verschwunden. Ich bekomme keine Luft mehr.
    »Sarah!«
    Ich suche und suche. Ich kann ihn nicht entdecken. Mein Blickfeld verengt sich. Details und Farben lösen sich auf. Meine Lunge verwandelt sich in einen Stein. Ich ersticke.
    »Sarah!«
    Mein Verstand erkennt die Stimme meiner Mutter. Ich sehe die verschwimmende Straße und den Gehsteig hinunter, aber ich kann sie nirgends entdecken.
    »Sarah!«
    Ihre Stimme ist jetzt lauter. Sie kommt von links. Als ich mich umdrehe, sehe ich sie über den Gehsteig auf mich zulaufen, Linus auf der Hüfte. Luft und Leben strömen zurück in meinen Körper.
    »Linus!«
    Sie ist bereits bei mir, bevor ich mich in Bewegung setzen kann.
    »Als ich aus der Apotheke gekommen bin, habe ich zufällig in die andere Richtung gesehen. Er wollte gerade auf die Straße laufen«, sagt sie mit atemloser, zitternder Stimme.
    »Oh mein Gott.«
    »Was war denn los?«
    »Ich weiß nicht. In dem einen Augenblick war er noch bei den Zügen, und im nächsten …«
    Meine Kehle schnürt sich zu. Ich kann es nicht aussprechen. Ich kann es nicht noch einmal durchleben, selbst wenn es nur das ist, was hätte passieren können und zum Glück nicht passiert ist. Ich breche in Tränen aus.
    »Komm her, setz dich.« Sie führt mich zu der Bank vor dem Käsegeschäft.
    Wir setzen uns, und meine Mutter reicht mir Linus. Ich halte ihn auf meinem Schoß und küsse immer wieder sein Gesicht, während ich den Tränen freien Lauf lasse. Meine Mutter keucht, ihre Augen sind weit aufgerissen und zur Straße gewandt, aber sie sehen nicht so aus, als ob sie wirklich etwas wahrnehmen außer der Szene, die sich in ihrem Kopf abspielt. Ein Lastwagen einer Landschaftsgärtnerei rumpelt an uns vorbei.
    »Laster! Laster!«, sagt Linus entzückt.
    Ich halte ihn noch fester. Meine Mutter kommt aus ihrer Trance zu sich und sieht auf die Uhr.
    »Wir müssen Lucy abholen«, meint sie.
    »Okay.« Ich reibe mir die Augen. »Sein Buggy steht noch im Spielzeuggeschäft.«
    Ich sehe meinen entzückenden kleinen Jungen prüfend an, bevor ich ihn wieder meiner Mutter gebe, damit sie ihn trägt. Er ist völlig unversehrt und ahnt nicht einmal, was ihm hätte zustoßen können. Ich küsse seinen Nacken und drücke ihn noch einmal an mich. Dann sehe ich seine Hände.
    »Und wir müssen diese Züge zurückbringen.«
    Später in dieser Nacht fühle ich mich rastlos, steige aus dem Bett und schleiche in Linus’ Zimmer. Ich sehe ihm zu, wie er in seinem Gitterbettchen schläft. Er liegt auf dem Rücken, in einem blauen Strampelpyjama, einen Arm über den Kopf gelegt. Ich lausche auf seine tiefen Atemzüge. Selbst Jahre nach jenen sorgenvollen Monaten mit einem Neugeborenen bedeutet es für meine mütterlichen Ohren noch immer Erleichterung und Frieden, meine Kinder atmen zu hören, wenn sie schlafen. Er hat seinen orangefarbenen Schnuller im Mund, der seidige Rand seiner Lieblingsdecke berührt seine Wange, und Bunny liegt schlaff über seiner Brust. Er ist von jedem Baby-Sicherheitszubehör umgeben, das man sich vorstellen kann, und doch hätte ihn nichts davon vor dem beschützt, was heute hätte passieren können.
    Danke, Gott, dass du ihn behütet hast. Ich stelle mir vor, was heute hätte passieren können, und dann stelle ich mir vor, jetzt hier zu stehen und in ein leeres Gitterbettchen zu starren. Das Bild schnürt mir die Luft ab, und ich kann es kaum noch ertragen, hier zu stehen und daran zu denken. Danke, Gott, dass du ihn behütet hast. Und auch wenn ich davon überzeugt bin, dass es grundsätzlich angebracht und ratsam ist, Gott für seine Segens- und Wundertaten zu danken, weiß ich

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