Mehr als nur ein Zeuge

erzählen, und zwar alles. Schon bei dem Gedanken kriege ich Gänsehaut und ich gehe eilig an dem grauen Kasten vorbei. Beichten ist nichts für mich. Es ist eher was für Leute wie meine Gran, die nie etwas Schlimmes tun.
    |376| Eins beschäftigt mich allerdings. Einmal, in St. Saviours bei der Morgenversammlung, hat Pater Murray uns erzählt, dass die Beichte nicht nur mit der Vergangenheit, sondern ebenso sehr mit der Zukunft zu tun hat. »Mithilfe der Beichte stattet Jesus eure Seele mit einem Versicherungsschein aus«, hat er gesagt und alle haben gelacht, weil wir uns vorgestellt haben, wie Jesus plötzlich im Fernseher erscheint und uns eine Haftpflichtversicherung verkauft.
    Aber egal. Meiner Seele würde jetzt sowieso niemand mehr eine Versicherung verkaufen, ich bin wie ein Autofahrer, der schon zu viele Unfälle gebaut hat, außerdem habe ich nie richtig fahren gelernt.
    Ich gehe weiter ins Café, hole mir eine Cola und logge mich ein. Es dauert eine Viertelstunde, bis ich genug über den Zuiderzee-Damm recherchiert und mir die Seiten ausgedruckt habe. Dann rufe ich Hotmail auf und schaue nach, ob mir Claire geschrieben hat. Bingo. Nur eine kurze Nachricht. Aber es reicht, um mich durch die nächsten paar Tage zu bringen.
    Ist es fair, dass ich mich auf Claire stütze, obwohl sie nicht mal meine ganze Geschichte kennt? Ist es richtig? Ich kriege schon Zweifel, ob die Claire, auf die ich mich verlasse, echt ist oder nur eine ausgedachte Person, die ich mir zusammenfantasiert habe. Sie ist meine beste Freundin und ich liebe sie, aber ich kenne sie eigentlich kaum. Und sie kennt mich ganz bestimmt auch nicht.
    Und ich weiß, dass es nicht fair ist, alles auf Claire |377| abzuladen, aber jemandem muss ich es sagen, und sie ist besser als Al Pacino, der sich in einer Kiste versteckt, oder Jesus mit seinem Rundumsorglospaket. Claire kommt mir wenigstens nicht mit Gebeten. Entweder geht sie zur Polizei oder sie vertraut mir. Mein Schicksal liegt in ihren Händen. Dort ist es besser aufgehoben als irgendwo anders.
     
    Hallo, Claire, meine Claire,
     
    ich habe viel drüber nachgedacht, wieso wir uns so schnell so nah gekommen sind, aber ich kapiere es immer noch nicht. Eben noch war ich gemein zu dir   – was mir, wie schon gesagt, echt leidtut   – und wir haben uns gestritten, und im nächsten Augenblick habe ich diese unglaubliche Nähe und ein großes Vertrauen gespürt. Das wird immer so sein, auch wenn du nie wieder mit mir reden willst, wenn ich dir das hier erzähle. Ich muss ehrlich zu dir sein. Denn darum geht es zwischen uns beiden.
    Ich bin ein Lügner, Claire. Ich lüge die Polizei an, und wenn ich als Zeuge vor Gericht aussage, werde ich auch lügen. Aber ich bin nicht nur ein Lügner, sondern ich habe etwas ganz Schlimmes getan. Ich habe jemanden verletzt. Das habe ich noch keinem gestanden.
    Was du damit anfängst, ist deine Entscheidung. Du kannst mir Fragen stellen, ich will alle beantworten. Ich will dir alles erzählen. Vielleicht kannst du ja verstehen, warum ich es getan habe, und mir vergeben.
    Vielleicht willst du aber auch nichts mehr mit mir zu tun
|378|
haben, und auch das kann ich verstehen. Oder du tust so, als hättest du diese Mail nie bekommen. Das ist deine Sache. Egal, was du tust, pass auf dich auf. Ich vertraue auf deine Kraft. Ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben. Ich weiß, dass ich für dich Joe bin, aber es war Tyler, der das getan hat, und ich möchte, dass du Tyler liebst oder hasst oder vergisst.
     
    Ty x

Informationen zum Buch
    Einen Mord zu beobachten, ist verdammt hart. Öffentlich als Zeuge auszusagen, kann lebensgefährlich werden. Der einzige Ausweg: eine neue Identität.

Informationen zur Autorin
    Keren David
wuchs in der Nähe von London auf. Sie arbeitete zunächst als freie Journalistin und mehrere Jahre als Nachrichtenredakteurin sowie Kommentatorin beim
Independent
. Ihr Debütroman ›Mehr als nur ein Zeuge‹ erregte bei seinem Erscheinen in England sehr viel Aufmerksamkeit und wurde für zahlreiche Preise nominiert. Keren David lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in London.