Mehr als nur ein Zeuge
morgen wieder zur Schule.«
»Das sollten wir uns sehr gut überlegen. Wahrscheinlich wäre es besser, wenn Sie nicht heimgehen.«
Sie sieht ihn fragend an. »Wie meinen Sie das? Wir können doch nicht hierbleiben.«
»Wir kümmern uns um Sie. Ty hat in seiner Aussage ein paar sehr gefährliche Typen erwähnt. Wir wollen nicht, dass die womöglich versuchen, ihn zum Schweigen zu bringen.«
Ich setze mich fröstelnd auf und blinzle ins Neonlicht. »Wo sollen wir denn hin?«, frage ich. Hoffentlich bringt man uns nicht irgendwo unter, von wo ich durch halb London gondeln muss, damit ich pünktlich in der Schule sein kann, denn es wäre typisch für Mum, dass sie mich trotzdem hinschickt. Beim Thema Schule versteht sie keinen Spaß.
»Wir bringen Sie in ein Hotel und klären erst einmal die Lage«, sagt Morris. »Vielleicht ist es erforderlich, dass wir Sie in unser Zeugenschutzprogramm aufnehmen.«
»Wie jetzt … Was ist ein Zeugenschutzprogramm?«, will Nicki wissen. Mir gefällt das Wort
Schutz
überhaupt nicht. Daran habe ich ungute Erinnerungen.
|11| »Wir siedeln gefährdete Zeugen um, statten sie mit einer neuen Identität aus, mit einer neuen Wohnung, mit genug Geld, um ein neues Leben anzufangen. Wir tun unser Möglichstes, damit Ihnen nichts zustößt.«
»Auf gar keinen Fall«, erwidert Nicki. »Kommt nicht infrage. Das ist nicht nötig, da bin ich sicher.«
»Vielleicht sollten wir Sie einfach ein paar Tage in einem Hotel unterbringen und abwarten, wie sich die Situation entwickelt«, sagt er, trinkt seinen Tee aus und steht auf. Er schüttelt uns die Hand. »Danke für deine Mitarbeit, Ty. Damit hilfst du uns sehr.«
Dann bringen sie mir meine abgetippte Zeugenaussage. Ich hab keine Lust, das Ganze noch mal zu lesen. Ich hab keine Lust, dran zu denken, was in dem Park passiert ist und was nicht. Aber ich muss alles Wort für Wort lesen, jede Seite gegenzeichnen und zum Schluss unterschreiben.
Ein uniformierter Beamter fährt uns in einem Zivilfahrzeug durch die dunklen, leeren Straßen zu unserer Wohnung zurück. »Sie haben eine halbe Stunde Zeit. Packen Sie ein paar Sachen zusammen«, meint er. »Überlegen Sie sich gut, was Sie mitnehmen wollen, denn es könnte sein, dass Sie nicht mehr herkommen.« Nicki erwidert aufgebracht, dass wir ja nur ein paar Tage in ein Hotel gehen, aber ich sehe dem Polizisten an, was er denkt:
Die Frau macht sich was vor.
Wie soll man entscheiden, was man mitnimmt, wenn man gerade erfahren hat, dass man vielleicht nie mehr nach Hause zurückkommt? Ich muss an die Menschen |12| denken, die ihre Behausungen bei Überschwemmungen, Tsunamis und Erdbeben verlieren, Menschen, die man in den Nachrichten in Flüchtlingslagern sieht, weil in ihren Ländern Krieg ist. Die haben bestimmt ganz andere Sorgen, als sich Gedanken darüber zu machen, ob sie irgendein besonderes Foto oder ein altes Spielzeug verlieren. Angesichts einer Katastrophe spielen solche Kleinigkeiten bestimmt keine Rolle mehr.
Also tue ich so, als wären wir von ansteigendem Hochwasser umgeben und müssten, kurz bevor uns der Hubschrauber evakuiert, rasch ein paar Sachen zusammenkramen. Das macht es ein bisschen unwirklicher. Aber es hilft auch nicht besonders, wenn es darum geht, zum Beispiel den alten Schreibtisch zurückzulassen, den mein Opa für meine Mum getischlert hat, als ich noch gar nicht auf der Welt war.
Ich stecke meinen Laptop in seine Hülle, aber der Beamte sagt: »Den lass mal hier. Den wollen wir uns bestimmt noch ansehen.«
»Aber das ist meiner …«
Mein Laptop ist das Wertvollste, was ich besitze. Gran hat ewig gespart, um ihn mir zu schenken, als ich auf die höhere Schule kam.
Der Polizist schüttelt den Kopf: »Wir besorgen uns eine richterliche Erlaubnis und dann müssen wir die Festplatte durchsuchen. Was ist mit der Kleidung, die du gestern angehabt hast? Die nehme ich gleich mit.« Ich wühle im Haufen mit der Schmutzwäsche und ziehe eine Jeans und eine graue Kapuzenjacke heraus. Zum Glück |13| hab ich noch jede Menge andere Jeans, und das Kapuzenteil hat Gran gleich im Dreierpack gekauft.
Ich packe meinen iPod ein. Ich packe meinen Manchester-United-Schal ein, das Einzige, was ich von meinem Dad habe. Ich packe meine Schuluniform und meine Bücher ein, weil Nicki es mit Sicherheit sowieso irgendwie hinkriegt, dass ich doch wieder in die Schule gehen muss. Und dann noch ein paar Klamotten und so. Ich krame unter meinem Bett herum und hole die Plastiktüte
Weitere Kostenlose Bücher