Mein Auge ruht auf dir - Thriller
Sie musste schlucken, als ihr die Frage in den Sinn kam, die sie sich mittlerweile schon so oft gestellt hatte: War Mom im Zimmer, als es geschehen ist? Oder ist sie erst dazugekommen, nachdem sie den Schuss gehört hat? Kann es sein, dass Mom die Täterin ist? Bitte, Gott, lass das nicht zu!
Sie ging zum Toilettentisch und betrachtete sich im Spiegel. Ich bin so blass, dachte sie, als sie sich ihr schulterlanges schwarzes Haar bürstete. Die Augen waren geschwollen von ihren vielen Tränen in den letzten Tagen. Ein unpassender Gedanke ging ihr durch den Kopf: Ich bin froh, dass ich Daddys dunkelblaue Augen habe und so groß bin wie er. Beim Basketball hat das jedenfalls nie geschadet.
»Ich will einfach nicht glauben, dass er tot ist«, flüsterte sie und musste an die kaum drei Wochen zurückliegende Feier zu seinem siebzigsten Geburtstag denken. Wieder ließ sie die vergangenen vier Tage Revue passieren. Am Montagabend war sie länger im Büro geblieben, um für einen Neukunden einen Investmentplan zu entwerfen. Als sie um acht in ihre Wohnung im Greenwich Village kam, rief sie wie gewöhnlich ihren Vater an. Daddy war sehr niedergeschlagen, erinnerte sie sich. Mom, erzählte er, hatte einen schrecklichen Tag hinter sich; es war klar, dass es mit ihrer Alzheimer-Erkrankung immer schlimmer wurde. Aber aus irgendeinem Grund habe ich um halb elf noch einmal angerufen, weil ich mir Sorgen um sie gemacht habe.
Als sich Daddy nicht gemeldet hat, wusste ich, dass etwas nicht stimmt. Wieder musste sie an die scheinbar endlose Fahrt vom Greenwich Village nach New Jersey denken. Immer wieder hatte sie von unterwegs angerufen. Um 23 Uhr 20 war sie in die Anfahrt eingebogen, hatte in der Dunkelheit nach dem Haustürschlüssel ge kramt und war zum Haus gerannt. Im Erdgeschoss brannten sämtliche Lichter, und sie eilte sofort ins Arbeitszimmer.
Dort bot sich ihr ein schrecklicher Anblick. Ihr Vater lag zusammengesackt über dem Schreibtisch, Kopf und Schultern waren blutüberströmt. Ihre Mutter, ebenfalls voller Blut, kauerte im begehbaren Wandschrank neben dem Schreibtisch und hielt Vaters Pistole umklammert.
Mom hat mich angesehen und gestöhnt. »So viel Lärm … so viel Blut …«
Ich war völlig außer mir, erinnerte sich Mariah. Ich habe den Notruf gewählt und nur gestammelt: »Mein Vater ist tot! Mein Vater ist erschossen worden!«
Wenige Minuten darauf ist die Polizei eingetroffen. Ich werde nie vergessen, wie sie Mom und mich angesehen haben. Ich hatte Daddy noch im Arm, deshalb war ich ebenfalls voller Blut. Und einer der Polizisten sagte, ich hätte den Tatort kontaminiert, weil ich Daddy berührt habe.
Mariah wurde bewusst, dass sie die ganze Zeit in den Spiegel gestarrt hatte, ohne sich wirklich wahrzuneh men. Die Uhr auf dem Toilettentisch zeigte bereits halb acht. Ich muss mich fertig machen, dachte sie. Um neun sollen wir im Bestattungsinstitut sein. Hoffent lich ist Rory bis dahin mit Mom fertig. Rory Steiger war die untersetzte Zweiundsechzigjährige, die sich seit zwei Jahren um ihre Mutter kümmerte.
Zwanzig Minuten später trat Mariah, geduscht und geföhnt, wieder in ihr Zimmer, öffnete den Schrank und nahm die schwarz-weiße Jacke und den schwarzen Rock heraus, die sie für die Beerdigung vorgesehen hatte.
Nach dem Ankleiden trat sie ans Fenster. Sie hatte es offen gelassen, als sie zu Bett gegangen war, sodass sich nun die Vorhänge im sachten Wind bauschten. Sie sah in den Garten hinaus, in dem ein Japanischer Ahorn stand, den ihr Vater vor vielen Jahren eingesetzt hatte. Die im Frühjahr gepflanzten Begonien und Fleißigen Lieschen rankten sich um die Veranda. In der Ferne schimmerten die Ramapo Mountains grüngolden in der Sonne. Ein herrlicher später Augusttag.
Ich will nicht, dass heute so ein wunderschöner Tag ist, dachte Mariah. Man könnte glatt meinen, es wäre nichts Schreckliches passiert. Aber es ist Schrecklichespassiert. Daddy ist ermordet worden. Ich will, dass es regnet und kalt ist und trüb. Ich will, dass Regen auf seinen Sarg fällt. Ich will, dass der Himmel um ihn weint.
Er ist für immer fort.
Trauer und Schuldgefühle drohten sie zu überwältigen. Der sanftmütige College-Professor hatte sich erst drei Jahre zuvor so sehr auf seinen Ruhestand gefreut, weil er dann all seine Zeit mit dem Studium alter Manuskripte verbringen konnte, und jetzt war er so gewaltsam aus dem Leben gerissen worden. Ich habe ihn geliebt. Obwohl unsere Beziehung in den letzten eineinhalb
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