Mein bis in den Tod
Frühstücksflocken mampfte. Wie üblich saß Rasputin ihm zu Füßen, wie immer voll Hoffnung, dass sich ein paar Brocken vor ihm auf den Boden verirrten. Meistens hatte er Glück: Alec war kein besonders ordentlicher Esser.
Ihr und Ross war ihre Zeit auf Erden geschenkt worden. In gewisser Weise galt das für alle, Alec, ihre Mutter und Oliver eingeschlossen. Alles Leben war im Grunde geschenkte Zeit.
Sie erinnerte sich, wie sie vor langer Zeit mit Oliver auf einem Friedhof im Norden Londons umherspaziert war, und sie wusste noch genau, was er gesagt hatte, während er einen Grabstein betrachtete.
»Wissen Sie, was mich fasziniert? Der Bindestrich. Dieses kleine Satzzeichen zwischen den Lebensdaten. Ich schaue auf jemandes Grab und denke: Dieser Gedankenstrich steht für das ganze Leben eines Menschen. Sie und ich leben im Moment sozusagen zwischen den Bindestrichen. Es ist nicht wichtig, wann jemand geboren wurde oder wann er starb, was zählt, ist, was wir dazwischen mit unserem Leben angefangen haben.«
Dann hatte er von einem Tempel gesprochen, der in einer anderen Dimension existiere, einem Tempel, den die Menschen nur nach ihrem Tod betreten könnten. In diesem Tempel werde die Akasha-Chronik aufbewahrt, die die Geschichte jeder Seele enthielt.
Sie fragte sich, ob Ross wohl nun dort war. Wenn er in diesem Tempel war, die Seiten der Chronik durchblätterte, um jenen Punkt zu finden, an dem sich alles in seinem Leben geändert hatte, diesen Moment, da ihre Wege sich vielleicht getrennt hatten und dieses Etwas – von dem niemand je erfahren würde, was es war – in seine Seele eingedrungen war und er sich von einem guten in einen bösen Menschen verwandelt hatte.
Doch die grauenvollen Geschehnisse hatten auch etwas Gutes: Ihre Mutter und sie waren einander wieder näher gekommen. Ihre Beziehung war jetzt viel stärker und enger, als sie es je gewesen war.
Zu ihrer Freude – und Verblüffung – hatte sich Margaret, die inzwischen unter Arthritis litt, zur Behandlung ins Cabot-Zentrum begeben und besuchte dort allwöchentlich Akupunktur-, Aromatherapie- und Reikisitzungen, und was Faith noch mehr wunderte, sie hatte sich von Oliver sogar eine homöopathische Kur gegen eine Erkältung verschreiben lassen.
Es war jetzt zwei Jahre und vier Monate her, seit man bei Faith die Lendtsche Krankheit diagnostiziert hatte. Inzwischen musste sie sich nur noch alle drei Monate untersuchen lassen.
Die letzten beiden Untersuchungen waren ohne Befund geblieben. Es gab zwar Patienten, die einen Rückfall erlitten und von der Erkrankung ausgelöscht worden waren, nach zwei Jahren geschah dies jedoch nur noch höchst selten.
Die Medizin war keine exakte Naturwissenschaft, das zeigten die vielen Seiten mit Informationen über die Lendtsche Krankheit im Internet, das Für und Wider hinsichtlich des neuen Wundermittels von Moliou-Orelan, Entexamin, aber auch bezüglich aller Arten von Naturheilmitteln.
Sie konnte unmöglich sagen, ob der Weg, den sie gemeinsam mit Oliver eingeschlagen hatte, um die Krankheit zu besiegen, der richtige war, doch jedes Mal, wenn sie ihn im Stillen in Frage stellte, erinnerte sie sich an ein Gespräch, das sie gleich zu Beginn der Therapie mit Oliver geführt hatte.
»In dieser Klinik sind wir nicht gegen die Schulmedizin, Faith, ganz und gar nicht. Die Wissenschaft ist lediglich eine Methode, um hinter die Wahrheit zu kommen, und wir glauben erst, dass der Extrakt des Fühlers irgendeiner Amazonas-Ameise mehr bewirkt als die Schulmedizin, wenn er nach allen Regeln der Kunst getestet wurde. Aber wir wissen auch, dass wir mit Menschen, nicht mit Automobilen zu tun haben. Und Menschen werden wieder gesund, weil sie gesund werden wollen. Aus einer Reihe gründlicher Studien ist uns bekannt, dass es zwischen Körper und Geist Wechselwirkungen gibt, und die besten Heilungschancen bestehen, wenn Leib und Seele miteinander in Einklang stehen. Wenn wir dafür sorgen, dass es der Seele gut geht, mit Massagen, guter Musik, reinen, natürlichen Lebensmitteln und, natürlich, Liebe, so besteht eine viel größere Chance, dass der Körper heilt.«
»Wollen Sie das mit mir tun, Dr. Cabot – mich mit Liebe heilen?«, hatte sie damals gefragt.
»Mami, wir kommen zu spät zur Schule.«
Faith hob den Kopf und sah ihren Sohn durch einen Schleier von Tränen an.
»Warum weinst du?«, fragte er. »Bist du traurig?«
Sie nickte. »Mami ist traurig heute Morgen. Sehr, sehr traurig. Aber auch
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