Mein bis in den Tod
meisten Nächten schlief sie schlecht, lag wach im Bett und versuchte, die Jahre der Ehe mit Ross zu enträtseln. Nur ein Gedanke besänftigte sie, nämlich – Oliver hatte sie wiederholt an diese Worte Sören Kierkegaards erinnert –, dass man das Leben nur in der Rückschau verstehen könne, jedoch mit dem Blick nach vorn leben müsse.
Während sie in dem kleinen Raum so weit wie möglich entfernt von Ross stand, beobachtete sie ihn aufmerksam, froh, dass die Krankenschwester im Raum war, irgendwie ängstlich, dass er, selbst in diesem Zustand, die Hand ausstrecken und sie verletzen könnte. Sie hatte das Gefühl, als spürte er, dass sie im Zimmer war, und als wollte er unbedingt mit ihr sprechen.
Zu den schwierigsten Dingen gehörte, Alecs ständige Fragen nach seinem Vater zu ertragen, doch sie wurden seltener. Sie hatte von Anfang an beschlossen, so nahe wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben. Sie erklärte ihm, sein Vater habe sich schwer verletzt und liege weit weg in einem Krankenhaus und wolle ihn, Alec, erst wiedersehen, wenn es ihm selbst besser gehe.
Oliver war gut zu ihm, und Alec mochte ihn, das war eindeutig, dennoch gab es immer noch Zeiten, da sie Traurigkeit in Alecs Miene las, wenn er in Gedanken irgendwohin abdriftete.
Die Wörter kamen ganz plötzlich heraus, klar und deutlich. So klar, als hätte Ross die letzten zwei Jahre abgestreift und als säßen sie wieder in Little Scaynes Manor gemeinsam in der Bibliothek, im Wohnzimmer oder in der Küche und plauderten.
»Wie geht’s Alec?«
Dann Stille.
Faith sah die Krankenschwester an und fragte sich, ob sie es sich eingebildet hatte, aber sie merkte, dass auch sie es gehört hatte.
Mit zitternder Stimme antwortete sie: »Gut.«
Keine Antwort, nur die stoßweisen, unregelmäßigen Laute seiner Atmung.
Sie wartete eine ganze Minute, vielleicht länger, und dann, sie konnte nicht anders, traten ihr Tränen in die Augen. »Er hat gerade seinen achten Geburtstag gefeiert. Wir hatten eine Hüpfburg, einen Zauberer und haben gegrillt.«
Sie blickte wieder die Schwester an, die sie mit einem Nicken ermutigte, weiterzusprechen. »Am besten – hat ihm gefallen, als wir die Luftpumpe ein paar Sekunden abstellten und die Burg allmählich in sich zusammenfiel. Und letzte Woche hat er in der Schule dreißig Runs beim Cricket erzielt. Er wird ein guter Sportler werden, genau wie sein Vater. Er schießt auch in die Höhe. Er wird groß und stark werden, so wie du.«
Sie griff in ihre Handtasche, zog ein Taschentuch heraus und wischte sich die Augen trocken. »Und weißt du, was er neulich gesagt hat? Dass er Arzt werden möchte, wenn er groß ist. Er will Schönheitschirurg werden, so wie du. Er will mir den Höcker auf der Nase operieren – den ich bekam, als du mir ins Gesicht geschlagen hast, um mich davon abzuhalten, in das brennende Haus zu laufen, um ihn herauszuholen. Du hast sie mir gebrochen – ist das nicht blanke Ironie, nach all den Operationen, die du an mir vorgenommen hast?«
Ihre Stimme versagte. Dann lachte sie auf. »Ich habe ihm erklärt, dass er mehr als nur eine Rhinoplastik an mir vornehmen muss, wenn er denn die nötige Qualifikation besitzt. Ich glaube, die ganze Arbeit, die du an mir vorgenommen hast, wird in dreißig Jahren eine Rundumerneuerung benötigen.«
Die Tränen strömten ihr nur so über die Wangen. Sie wandte sich ab, weil ihre Gefühle sie überwältigten, verließ das Zimmer und ging schnell den Flur entlang.
[home]
Epilog
D rei Monate später, an einem schönen Herbstmorgen, erhielt Faith mitten beim Frühstück vom Krankenhaus einen Anruf, in dem man ihr mitteilte, dass Ross in der Nacht gestorben sei. Der Stationsarzt sagte, seiner Meinung nach habe es keinen Sinn gehabt, sie um vier Uhr in der Früh zu wecken.
Sie dankte ihm, legte auf – und war sich nicht sicher, was sie empfand.
Erleichterung, gewiss, aber es war doch komplizierter. Offiziell war sie nach wie vor Ross’ Ehefrau, was bedeutete – sie konnte sich noch gut an den Tod ihres Vaters erinnern –, dass sie den Sterbefall eintragen lassen und die Beerdigung organisieren musste.
Sie wünschte, Oliver wäre da, würde sie in die Arme nehmen und an sich drücken.
Er würde das Gefühlschaos in ihrem Inneren verstehen, er schien so viel von den Menschen, dem Leben zu verstehen.
Traurig setzte sie sich an den Küchentisch des Hauses unweit von Hampstead Heath, das Oliver gekauft hatte, und sah Alec zu, der seine
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