mein buch vom leben und sterben (German Edition)

rauche oder tue ganz einfach nichts.

wie ein eiswürfel mein leben veränderte
    ich bin kürzlich in köln jemandem begegnet, der ziemlich gleiche erfahrungen gemacht hat wie ich. wir dachten über das leben und auch über den tod ähnlich, und zwar so, wie ich es zuvor kaum mit einem anderen Menschen erlebt hatte. wir unterhielten uns stundenlang, philosophierten und kannten jeweils alle bücher, die der andere zuvor gelesen hatte. nachdem wir uns verabschiedet hatten, überkam mich der gedanke, dass der typ ja doch schon ein wenig abgedreht sei und nen leichten lattenknall haben müsse, bei dem, was er so von sich gegeben hatte. und dabei war es genau das, was ich dir hier in meinem buch erzähle. also darfst du durchaus denken, dass auch ich einen leichten knall haben muss ☺.
     
    ich kann dir nicht sagen, wie oft ich mir gewünscht habe, einfach nur dumm und dünn zu sein. nicht in einem eiswürfel oder an einer straßenkreuzung etwas zu entdecken, das mich berührt – und vor allen dingen nicht immer wieder dem tod zu begegnen.
     
    als meine mutter krank wurde, dachte ich wirklich: nee, ne! das passiert jetzt einfach nicht. ich packte ihre diagnose einfach in eine schublade, verdrängte sie. mein größter wunsch war es, wenn dies nun wirklich passieren sollte, wenn meine mutter an krebs sterben sollte, dann möchte ich auf der stelle nach amerika abhauen und erst dann zurückkommen, wenn alles vorbei ist.
     
    und dann passiert einem dieser sommer, er geht einfach vorbei, und im darauf folgenden frühling sitzt man da und hat das furchtbare hinter sich. man hat es überlebt, und es sind dinge mit einem geschehen, die verrückt und kaum zu begreifen sind. man möchte sie erklären und kann es nicht. man nimmt sie einfach mit, man bleibt mit ihnen zurück, und die welt dreht sich weiter.
     
    ein besonderes erlebnis war beispielsweise, als ich in meiner kleinen wohnung in köln eines abends saß, musik hörte und versuchte zu verstehen, was da mit meiner mutter geschah.

    ich überdachte wirklich an diesem abend mein gesamtes weltbild und versuchte zu kapieren, was während des sterbens eigentlich passiert, inwiefern ein körper hülle oder rückstand bleibt. ich weiß gar nicht mehr genau, in welchem krankheitsstadium meiner mutter oder zu welcher zeit dieser abend war. vielleicht drei oder vier wochen, bevor sie starb.
     
    ich wollte mir einen gin tonic mixen und hatte weder eis noch zitrone im haus. so ging ich hinüber zum rewe und kaufte diese riesenbeutel mit eiswürfeln drin und auch gleich mehrere zitronen. zuhause wollte ich dann den eisbeutel in mein viel zu kleines eisfach pressen, was natürlich nicht klappte. also nahm ich ein paar würfel aus dem beutel, warf sie in die spüle und presste dann zufrieden den beutel ins eisfach.
    ich mixte mir meinen gin tonic, legte irgendeine musik auf, ich glaube, es war »buddha bar« oder etwas ähnliches. dann wollte ich noch das licht in der küche dimmen, als mein blick auf die spüle und die darin liegenden eiswürfel fiel. ich lehnte mich an den schrank, mit meinem gin in der hand, mit musik auf den ohren und beobachtete, wie die
eiswürfel schmolzen. einen davon ganz besonders. ich nannte ihn harry. harry verlor sehr sanft seine form. ganz so wie der körper meiner mutter.
    ich stand da und schaute, trank und atmete, bis harry völlig seine form verloren hatte und im ausguss verschwunden war. genau so, wie auch der körper meiner mutter verschwinden würde.
     
    ganz leise flüsterte ich: »adieu harry« und überlegte: »wie tötet man eigentlich einen eiswürfel?« klar, man kann ihn zerstoßen, ihn schmelzen lassen, aber dann ändert er ja nur seine form, dann ist er halt wasser – und dann? wie tötet man wasser? man kann es kochen, bis es verdampft, aber dann ist es trotzdem nicht weg, sondern wasserdampf. und wie tötet man wasserdampf? egal, was man auch tut, man kann die form des eiswürfels verändern, aber man kann ihn nicht töten. man kann es nicht schaffen, dass die moleküle, die ihn ausmachen, die ihn existieren lassen, nicht mehr da sind.
     
    und plötzlich verstand ich: harry lebt!
     
    und genau so ist es auch bei dem körper meiner mutter. und bei meinem körper und bei allem, was da ist und lebt.
     
    du wirst vielleicht irgendwann selbst erfahren, dass es ein unterschied ist, solche dinge irgendwo zu hören, zu lesen und sie als logisch und gut zu erachten oder sie selbst zu erleben.
     
    dieser moment hat jedenfalls mich