Mein erfundenes Land
flammenden Versen:
Nacht, Schnee und Sand formen die Gestalt
meiner schlanken Heimat
alles Schweigen ist in ihrer langen Linie,
alle Gischt rinnt aus ihrem Meeresbart,
alle Kohle füllt sie mit geheimnisvollen Küssen.
Dieser schmale Landstrich gleicht einer Insel, ist im Norden vom übrigen Kontinent durch die Atacamawüste getrennt, die trockenste der Welt, wie ihre Bewohner gerne behaupten, obwohl das nicht stimmen kann, denn im Frühling hüllt sich ein Teil ihres Mondschotters in ein Blütengewand wie auf einem farbenprächtigen Gemälde von Monet; im Osten begrenzt durch die Kordillere der Anden, ein grandioses Massiv aus Fels und ewigem Eis; im Westen durch die steilen Küsten des Pazifischen Ozeans; an der Südspitze durch die menschenleere Antarktis. Dieses Land mit seiner dramatischen Topographie und seinen vielen Wetterzonen, das gespicktist mit bizarren Barrieren und geschüttelt wird vom Seufzen vieler hundert Vulkane – ein geologisches Wunder zwischen den Höhen der Gebirgskette und den Tiefen des Meeres –, wird vom Scheitel bis zur Sohle zusammengehalten von seinen Bewohnern, die sich trotzig als Nation fühlen.
Wir Chilenen haften an der Scholle wie die Bauern, die wir einmal waren. Die meisten von uns träumen von einem Stückchen Land, und sei es, um darauf vier raupenzerfressene Salatköpfe zu ziehen. Die wichtigste Tageszeitung, El Mercurio , veröffentlicht Woche für Woche eine Landwirtschaftsbeilage, in der sie den Durchschnittsbürger über jeden noch so unbedeutenden Schädling informiert, der in den Kartoffeln gesichtet wurde, oder über die Milchmenge, die sich erzielen läßt, wenn man ein bestimmtes Futtermittel verwendet. Die Leser, die zwischen Asphalt und Beton leben, sind mit ganzem Herzen dabei, auch wenn sie noch nie eine lebende Kuh gesehen haben.
Auf der Länge meines schlaksigen Chiles gibt es – grob gesagt – vier sehr unterschiedliche Klimazonen. Das Land gliedert sich in Provinzen mit wohlklingenden Namen, die sich das Militär vielleicht nur schwer merken konnte, jedenfalls hat es sie mit einer Nummer versehen. Ich weigere mich, diese zu benutzen, denn es kann doch nicht sein, daß sich ein Land der Dichter wie im Zahlenzwang die Landkarte mit Ziffern bekleckst. Aber kommen wir zurück auf die vier großen Regionen, beginnend mit dem Norte grande , dem Großen Norden, der, unwirtlich und rauh, bewacht von hohen Bergen, ein Viertel der Landesfläche einnimmt und in seinem Innern einen unerschöpflichen Reichtum an Bodenschätzen birgt.
Als Kind war ich einmal im Norden und habe es nicht vergessen, obwohl seither ein halbes Jahrhundert vergangen ist. Zwar durchquerte ich später in meinem Leben noch mehrmals die Atacamawüste, was immer eine atemberaubendeErfahrung ist, aber meine nachhaltigsten Eindrücke stammen von diesem ersten Mal. In meiner Erinnerung ist Antofagasta, was in der Sprache der Quechua »Ort am großen Salzsee« heißt, nicht die moderne Stadt von heute, sondern ein alter und ärmlicher, mit Fischerbooten, Möwen und Pelikanen gesprenkelter Hafen. Antofagasta tauchte im 19. Jahrhundert wie eine Fata Morgana in der Wüste auf, weil dort Salpeter abgebaut wurde, der jahrzehntelang eines der wichtigsten Exportprodukte des Landes war. Später, als das Nitrat synthetisch hergestellt wurde, verlor der Hafen zwar nicht seine Bedeutung, denn nun wurde Kupfer exportiert, aber die Salpeterunternehmen schlossen eines nach dem anderen und ließen das Hinterland übersät mit Geisterstädten zurück. Dieses Wort, »Geisterstadt«, beflügelte meine Phantasie auf jener ersten Reise.
Ich weiß noch, wie meine Familie und ich, mit Taschen und Koffern bepackt, in einen Zug stiegen, der im Schneckentempo durch die erbarmungslose Atacamawüste Richtung Bolivien kroch. Sonne, glühende Steine, Kilometer um Kilometer gespenstische Einsamkeit, zuweilen ein verlassener Friedhof, ein paar zerfallene Gebäude aus Lehmziegeln oder Holz. Die trockene Hitze machte selbst den Fliegen den Garaus. Der Durst war nicht zu stillen; wir tranken gallonenweise Wasser, saugten den Saft aus Orangen und verteidigten uns nach Kräften gegen den Staub, der durch alle Ritzen kroch. Unsere Lippen sprangen auf, bis sie bluteten, die Ohren schmerzten, wir waren ausgedorrt. Nachts war die Kälte hart wie Kristall, und der Mond übergoß die Landschaft mit einem bläulichen Schein. Viele Jahre später besuchte ich Chuquicamata, den größten Kupfertagebau der Welt, ein riesiges
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