0243 - Der Henker kam mit 13 Briefen
Der Mörder kam in einem Rollstuhl, bewegte sein Gefährt mühsam durch die wogende Menschenmenge der Penn-Station und erregte bei einigen Leuten jenes Mitleid, worauf sich sein teuflischer Plan gründete.
Der Mörder war in Decken gehüllt. Sein Gesicht wurde von einem breitrandigen Hut beschattet, sodass Stirn und Augen fast nicht zu sehen waren. Der Mörder hatte einen Schal um den Hals geschlungen, der Kinn und Mund völlig verdeckte.
Die Vermummung des Verbrechers war nicht von ungefähr. Sie stellte einen wesentlichen Punkt in seinem Vorhaben dar. Und dieses Vorhaben nahm auf dem Bahnsteig 25 der Penn-Station im Herzen New Yorks seinen Anfang.
Der Pennsylvania-Bahnhof, kurz »Penn-Station«, genannt, liegt im Zentrum der Millionenstadt zwischen der 7. und 8. Avenue. Er ist einer der größten Bahnhöfe der Welt. Täglich passieren ihn sechshundertzweiundachtzig Züge.
Auf diesem Riesenbahnhof geht es entsprechend turbulent zu. Jeden Tag drängen sich zweihunderttausend Reisende durch die Sperren der Penn-Station. Bei diesem flutenden Betrieb auf den Bahnsteigen und in der großen Halle wird nicht viel Rücksicht genommen. Mit den Ellenbogen kommt man entschieden besser voran. Time is money, Zeit ist Geld. Diese Devise treibt die Menschen unbarmherzig an.
Allerdings mit Ausnahmen. Hilflosen Menschen gegenüber zeigt sich der New Yorker zuvorkommend.
So auch an jenem Abend des 16. August, als sich der Verbrecher mühsam mit seinem Rollstuhl durch die lärmende und hastende Menge auf dem Bahnsteig
25 bewegte.
Der Mann im Rollstuhl steuerte sein Gefährt zu dem Express 472, der zwischen Washington und Philadelphia verkehrt, und sah sich Hilfe suchend um. Ohne fremde Hilfe konnte er nicht in den Zug gelangen.
Kurz entschlossen griffen zwei kräftige Männer zu. Ihre Bemühungen waren jedoch vergeblich. Der Rollstuhl was zu breit. Weder mit List noch mit Gewalt konnte er durch die Waggontür geschoben werden.
Die hilfsbereiten Männer sahen sich fragend an. Der größere der beiden machte den Vorschlag: »Der Postwagen hat breite Schiebetüren. Da ging der Rollstuhl ohne Weiteres durch. Ich werde mich mal erkundigen, ob wir ihn dort hineinheben dürfen.«
Während der Mann sich durch das Durcheinander der Reisenden, der Koffer und der Gepäckkarren bis zum Postwagen am Ende des Zuges wühlte, meinte eine ältere Dame zu ihrem Begleiter: »Direkt unverantwortlich, den armen Mann ohne Begleitung auf Reisen gehen zu lassen. Nur gut, dass es noch hilfsbereite Menschen gibt. Übrigens haben wir hier wieder einen Beweis, wie wenig man auf das Äußere eines Menschen geben kann. Der eine, der jetzt zum Postwagen geht, sieht doch fast wie ein Gangster aus. Nie hätte ich in ihm einen Funken Hilfsbereitschaft vermutet. Oscar, mache doch eine Aufnahme von der Szene. Ein schönes Motiv. Nicht wahr, Darling?«
Oscar, ein hagerer Gelehrtentyp mit einer randlosen Brille vor den wässrigen Augen, war selbstverständlich derselben Meinung. Eigene Ansichten wagte er niemals in Gegenwart seiner besseren Hälfte zu vertreten. Er machte seine Kamera schussbereit und wartete auf die Rückkehr des uneigennützigen Helfers mit dem Galgenvogelgesicht.
Dieser stritt sich indessen mit dem Schaffner des Postwagens herum.
»Hören Sie, da vorn ist ein Invalide in einem Rollstuhl. Er will nach Philadelphia fahren. Sein Rollstuhl passt aber nicht durch die Türen des Personenwagens. Nehmen Sie ihn doch bitte im Postwagen mit.«
Der Beamte war erst sprachlos ob der unerhörten Zumutung. Dann entschied er: »Ausgeschlossen! Das wäre gegen jede Vorschrift.«
»Werden Sie nicht albern. Der Kranke hat es schwer genug. Wie soll er reisen? Können Sie nicht mal eine Ausnahme machen und die Vorschriften vergessen?«
»Kann ich nicht. Sie haben leicht reden. Aber wer ist verantwortlich, wenn nachher etwas fehlt? Ich!« Der Schaffner tippte sich mehrmals mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Ich bin kein Unmensch. Aber in dem Wagen sind wertvolle Postsendungen…«
»Ach nein, was Sie nicht sagen«, erwiderte der Mann mit dem Ganovengesicht. »Sie glauben doch selber nicht, dass ein gehünfähiger Kranker den Postwagen ausräumen und dann spurlos verschwinden kann!«
»Was ich glaube, spielt keine Rolle«, protestierte der Beamte. »Laut Vorschrift ist der Aufenthalt Unbefugter im Postwagen verboten.«
»Na schön!, dürfte ich um Ihren Namen bitten? Wahrscheinlich interessiert sich eine Zeitung für das engstirnige Verhalten eines
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