Mein erfundenes Land
zwischen den Villen der Reichen an den Berghängen der Kordillere, mit Wächtern an den Pforten und vier Garagen, und den Behausungen in den Wohngegenden der Arbeiter, wo fünfzehn Personen in zwei Zimmern ohne Bad zusammengepfercht sind. Wenn ich in Santiago bin, staune ich immer aufs neue, daß ein Teil der Stadt schwarzweiß ist und der andere in Technicolor leuchtet. Im Zentrum und in den Arbeitervierteln sieht alles grau aus, die wenigen Bäume sind am Ende ihrer Kräfte, die Mauern ausgewaschen, die Menschen müde. Selbst die Hunde, die zwischen den Mülltonnen herumstromern, sind flohgeplagte Promenadenmischungen von undefinierbarer Farbe. In den Gegenden der Mittelklasse stehen üppig grüne Bäume, und die Häuser sind bescheiden, aber gepflegt. In den Wohngegenden der Reichen kann man nur die Vegetation bewundern, die Villen verbergen sich hinter unüberwindlichen Mauern, kein Mensch ist auf der Straße, und die einzigen Hunde sind abgerichtet und werden nur nachts aus dem Zwinger geholt, um die Anwesen zu bewachen.
Lang, trocken und heiß ist der Sommer in der Hauptstadt. Gelblicher Staub legt sich in diesen Monaten über alles, die Sonne läßt den Asphalt schmelzen und schlägt den Leuten aufs Gemüt, deshalb flieht, wer kann, aufs Land. Als ich klein war, siedelte meine Familie für zwei Monate ans Meer um, eine wahre Safari im Automobil meines Großvaters, das eine Tonne Gepäck auf dem Dach und drei restlos seekranke Kinder im Fond aushalten mußte. Die Straßen waren miserabel und schlängelten sich hügelauf, hügelab, eine unmäßige Strapaze für unser rumpeliges Gefährt. Mindestens einmal, wenn nicht zweimal war ein Reifen platt, und zum Wechseln mußte alles Gepäck abgeladen werden. Großvater hatte während der Fahrt ein altes Schießeisen auf den Knien, wie man sie früher für Duelle benutzte, denn er glaubte, am Paß von Curacaví, der bezeichnenderweise»Die Grabstätte« hieß, lauere eine Horde Banditen. Falls es sie überhaupt gab, waren es wohl eher Herumtreiber, die beim ersten Warnschuß das Weite gesucht hätten, aber vorsichtshalber überquerten wir die Anhöhe betend, ein unfehlbares Mittel gegen Überfälle, denn die finsteren Banditen bekamen wir nie zu Gesicht. All das ist Vergangenheit. Die Badeorte erreicht man heute in weniger als zwei Stunden über hervorragende Straßen. Bis vor kurzem waren die einzigen holprigen Wege diejenigen zu den Stränden der Reichen, die darum kämpften, in ihrer Sommerfrische unter sich zu bleiben. Allein der Gedanke, jedes Wochenende von Bussen voller Gesindel mit dunkelhäutigen Kindern, Grillhähnchen und plärrenden Transistorradios heimgesucht zu werden, ließ sie schaudern. Also sorgten sie dafür, daß die staubigen Pisten im schlechtestmöglichen Zustand gehalten wurden. Ein Senator der Rechten sprach ihnen aus der Seele: »Wenn die Demokratie demokratisch wird, taugt sie nicht.« Das hat sich geändert. Das Land ist von einer langen Verkehrsader durchzogen, der Panamericana, die im Süden in die Carretera Austral übergeht, und verfügt auch sonst über ein dichtes Netz befestigter und sehr sicherer Straßen. Keine Guerrilleros auf der Suche nach möglichen Entführungsopfern, keine Drogenbanden, die ihr Territorium verteidigen, keine korrupten Polizisten auf der Jagd nach Schmiergeld wie in anderen lateinamerikanischen Ländern, die etwas spannender sind als das unsere. Man wird eher mitten im Stadtzentrum ausgeraubt als auf einem einsamen Weg durchs Hinterland.
Kaum hat man Santiago verlassen, wird die Landschaft idyllisch: pappelgesäumte Viehweiden, Hügel und Weinberge. Dem Reisenden empfehle ich, an einem der Stände am Straßenrand anzuhalten und Obst und Gemüse zu kaufen oder ein wenig abseits der Hauptstraße über die Dörfer zu fahren und nach einem Haus mit einem weißen, im Wind flatterndenTuch Ausschau zu halten, denn dort werden ofenfrische Brötchen, Honig und goldgelbe Eier angeboten.
Die Küstenstraße führt vorbei an Stränden, an malerischen Dörfern und Buchten mit Fischernetzen und Kähnen, wo man die märchenhaften Schätze unserer Küche findet: zunächst den Seeaal, den König des Meeres in seinem juwelenbesetzten Schuppenwams; dann den Adlerfisch mit seinem saftigen weißen Fleisch, umgeben von einem Hofstaat aus hundert bescheideneren, nicht minder wohlschmeckenden Fischen; sodann der Chor unserer Meeresfrüchte: Seespinnen, Austern, Miesmuscheln, Kammuscheln, Ohrschnecken, Langusten und vieles mehr,
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