Mein Erzengel (German Edition)
unterhalten sich leise: zwei Ehepaare mittleren Alters und eine Frau in einem unförmigen Kleid, das weiße Haar am Hinterkopf zu einem Zopf geflochten. Sie werden Menschen aufnehmen, von denen sie nur ein paar Eckdaten kennen, Flüchtlinge, die ihnen Michaël bringen wird. Sie sind angespannt, auch wegen des Rauchs, doch keiner wagt, diesen Leuten, die alles verloren haben, auch noch das Rauchen zu verbieten. Einer spricht über die deutsche Besatzung. Er selbst ist zu jung, um den Krieg miterlebt zu haben, doch die Großmutter hat nie aufgehört, davon zu erzählen. Der gegenwärtige Krieg hat bei vielen Erinnerungen wachgerufen.
Ruth hat ihren Mann seit zwei Wochen nicht gesehen, freut sich auf ihn, hat Wein kühl gestellt. Im Backofen wartet der Auflauf, nach einem neuen Rezept sorgfältig zubereitet. Die Flüchtlinge werden nicht lange bleiben, wollen bestimmt mit ihren Landsleuten feiern. Alle sind aufgeregt, längst sollte Michaël da sein, trinken Wodka. Weil sie nicht miteinander reden können, prosten sie sich nur zu.
Es klingelt. Ruth läuft zum Türöffner, macht die Wohnungstür einen Spaltbreit auf, kehrt zu den Gästen zurück. Alle verstummen, stellen die Gläser ab. Eine Frau hüstelt nervös. Dann steht Michaël in der Tür, größer als die meisten, das Haar wild, hinter ihm die Neuankömmlinge. Ein Geschrei setzt ein, Lachen und Weinen, die Leute fallen einander um den Hals, das Kind kreischt. Gerettet! Kommen Sie, Herr Verbeke, trinken Sie mit uns! Die niederländischen Gastgeber begrüßen ihre Gäste. Noch sind beide Seiten scheu und steif, haben keine gemeinsame Sprache, doch man merkt ihnen die Erleichterung an, dass die wochenlange Ungewissheit ein Ende hat.
Michaël wirkt verstört, hat nicht einmal die Jacke abgelegt. Ruth schaut er gar nicht an. Etwas an ihm macht sie beklommen, sie wagt nicht, ihn zu umarmen, nicht einmal, ihn anzusprechen. Was ist los? Was hat er? Warum ist er so abweisend? Er hat die Menschen heil herausgebracht, warum freut er sich nicht mit ihnen? Weshalb schaut er an ihr vorbei?
Es ist Silvester, am Ersten hat sie Geburtstag.
Gelöst verlassen die Gäste das Haus, danken Michaël ein letztes Mal. Der blickt zu Boden, murmelt etwas Unverständliches. Dann Stille in der Wohnung. Endlich hat Michaël seine Jacke ausgezogen, schenkt sich einen Cognac ein. Ruth deckt den Tisch, holt das Essen. Er schaufelt hastig, ohne zu kauen, erzählt von Problemen mit Grenzbeamten, umkehren lassen haben sie ihn, einige Papiere waren nicht in Ordnung. Immer noch zittert seine Stimme vor Wut. Der Wein war teuer, er trinkt gierig, ein Glas nach dem andern. Die Beule an seinem rechten Unterkiefer hat sich zurückgebildet. Sie war ihm gewachsen, als er stundenlang mit Leuten telefonierte, die zwar bereit waren, Flüchtlinge aufzunehmen, aber erst einmal alles genau wissen wollten. «Die Menschen sind in Lebensgefahr!», hörte Ruth ein ums andere Mal, wie er sie anschnauzte.
Sie räumt das Geschirr ab, Michaël verzieht sich ins Bad. Bald hört sie ihn schnarchen. Vom Fenster aus schaut sie sich um Mitternacht das Feuerwerk an. Immerhin ist er wieder bei ihr.
Irgendwann kriecht sie zu ihm ins Bett, umhüllt von seinem Atem und der vertrauten Körperwärme schläft sie tief und lange. Jetzt ist alles gut.
Am Morgen auf dem Frühstückstisch eine Vase mit fünfzig Rosen.
Ruth hat drei Freundinnen zum Brunch eingeladen, ein lesbisches Paar und eine alleinstehende Fotografin in ihrem Alter, die es aufgegeben hat, nach einem Mann zu suchen. Sie haben einander kennengelernt, als Ruth für einen Katalog Fotos von ihren Gold- und Silberschmiedearbeiten brauchte. Es wird ein vergnüglicher Vormittag, der bis in den Nachmittag hineinreicht. Michaël ist wieder der Alte, braut Kaffee und läuft in die Küche, um Nachschub zu bringen, frische Semmeln, die Marillenmarmelade, noch ein paar Scheiben Lachs. Er lässt es nicht zu, dass Ruth auch nur ein einziges Mal aufsteht. Die roten Rosen prangen am Tischende wie das Versprechen auf einen neuen Lebensabschnitt.
Fünfzig Jahre! Allmählich wird sie erwachsen. Michaël ist noch nicht einmal vierzig. Die zwölf Jahre Altersunterunterschied sind nie ein Thema gewesen, zumal Michaëls Alkohol- und Drogenkonsum sichtbare Spuren hinterlassen hat, die ihn äußerlich zu einem Gleichaltrigen machen. Ruth hat sich gut gehalten, wie man so sagt, hat eine faltenfreie Stirn und nur wenige graue Haare, die hübsch aussehen zwischen den dunklen Locken.
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