Mein Erzengel (German Edition)
aus und Gold, um für zahlungskräftige Kunden Schmuck zu gestalten, ging ins Kino, kaufte sich Kleider, um ihre schwindende Schönheit zu kompensieren, und war bekümmert, weil Michaël schon länger nicht mehr das Bedürfnis gezeigt hatte, mit ihr zu schlafen.
«Ich will nicht, dass meine Kinder mich einmal fragen, warum wir nichts getan haben», sagte Michaël, eine Metapher, denn Kinder hat er keine. Hilflos nickte sie. Natürlich hatte er recht, ihr fiel nur beim besten Willen nichts ein, was sie tun könnten. Immerhin glaubte sie, die richtige politische Einschätzung der Lage gefunden zu haben, und gab diese gern in Diskussionen mit Freunden zum Besten.
Michaël wurde seine Untätigkeit immer unerträglicher. Eine gemeinsame Bekannte, die als Friedensaktivistin aus ihrem Land hatte fliehen müssen und in einer holländischen Kleinstadt untergekommen war, hatte ihn aufgelöst angerufen. Ihr Bruder sei im Wirtshaus von einem einstigen Kumpel aus ihrem Heimatdorf angesprochen worden, ob sie seine Schwester sei. Als dieser bejahte, setzte der andere ihm die Pistole an die Schläfe. Der Bruder hielt es für Spaß, lachte noch, sie kannten einander von früher, als sie noch keine Feinde sein mussten. Der Kumpel aber drückte ab. Mitten in der Gaststätte. Nun seien auch ihre alten Eltern in Gefahr, sagte die Bekannte, könne Michaël einen Weg finden, sie ins sichere Ausland zu bringen?
Dieser Anruf war der berühmte letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. An seinem Geburtstag setzte Michaël eine Anzeige in die Zeitung, in der er sich anbot, aufnahmewilligen Gastgebern Flüchtlinge zu vermitteln, die bürokratischen Wege zu erledigen und sie sicher in die Niederlande zu bringen. Er versprach zu leisten, was die großen Flüchtlingshilfsorganisationen bis dahin nicht geschafft hatten. Im Blindflug sozusagen, denn er hatte keine Ahnung, ob es ihm wirklich gelingen würde, vertraute bloß auf seine Intuition und Erfindungsgabe. Ganz zu schweigen davon, dass er nicht wusste, wie er die Aktion finanzieren würde.
Wie geradlinig er seine Ziele verfolgte, war Ruth bekannt. Zum Beispiel hatte er Ruth gewollt. Anfangs muss ihm das als hoffnungsloses Unterfangen erschienen sein, denn nach der ersten leidlich verbrachten Nacht hatte sie ihm nicht gerade zartfühlend erklärt, einen so unförmigen und verwahrlosten Mann nicht ertragen zu können, vielleicht fiel sogar das Wort «hässlich». Neben seinem wenig einnehmenden Äußeren gab es da aber etwas anderes, für das sie keine Worte fand, ein unbestimmtes Gefühl der Angst. Nachdem sie sein Haus verlassen hatte, überkam sie eine tiefe Traurigkeit. Sie ging heim und verkroch sich ins Bett. Draußen war Wiener Hochsommer.
Michaël ähnelte in erschreckender Weise den drei oder vier intellektuellen linken Männern, in die sie sich im Laufe der Jahre verliebt hatte, es schien sogar, als wären deren Eigenschaften bei ihm gebündelt und potenziert. Typisch für diese Männer war eine oft panische Angst vor Nähe bei gleichzeitiger Sehnsucht danach. Sie konnten von einem Augenblick auf den anderen von Wärme auf Eiseskälte schalten. Was Ruth von ihnen nicht loskommen ließ, war die Erinnerung an den kurzen Moment, in dem sie ihre Empfindsamkeit und Zärtlichkeit zuließen. Um diesen Augenblick nochmals zu erleben, war sie bereit, Zurückweisungen und Demütigungen in Kauf zu nehmen. Und wenn sie es nicht länger ertragen konnte und endlich gehen wollte, erzeugte der betreffende Mann den magischen Moment noch einmal, und die Falle schnappte erneut zu. Am Ende wurde immer sie verlassen.
Es mochte ungerecht sein, diese so unterschiedlichen Männer über einen Kamm zu scheren, aber die Gemeinsamkeiten waren tatsächlich unübersehbar, ihre Angst vor Nähe und ihre Angst vor Auseinandersetzung. Lieber machten sie sich auf die fieseste Art wortlos aus dem Staub, als zu riskieren, sich einer in Tränen aufgelösten Freundin stellen zu müssen.
Mit dieser Erfahrung stand Ruth nicht allein da, fast alle ihre Freundinnen hatten ähnliche Geschichten zu erzählen, blickten fassungslos zurück auf eine Liebesbeziehung, die mit einem Mal eine fatale Wendung genommen hatte, ohne dass es ihnen möglich gewesen wäre, in einem Gespräch die Ursache zu erkunden. Geneviève, zum Beispiel, eine Französin, die in Wien an ihrer Dissertation arbeitete, hatte sich darauf vorbereitet, ihren langjährigen Freund zu heiraten, es hatte sogar so etwas wie eine Verlobung gegeben.
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