Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
einer aufklärungsmüden späteren Moderne? War seine Rede über den Menschen nicht schon kongenial mit der Selbsterfahrung einer Zivilisation, die in diesem Jahrhundert wie in keinem zuvor die Menschen das Fürchten gelehrt hatte: vor sich selbst wie vor der Entartung ihrer hochzielenden Projekte?
Wenn Pascal in einer unvergeßlichen Prägung vom Menschen als einem denkenden Schilfrohr sprach – wer hätte dies nicht als Emblem für unsere neuerlebte Zerbrechlichkeit verstehen müssen? Und wenn er vom Menschen handelte als einem entmachteten König, wer hätte nicht an die soziopolitischen Großprojekte unserer Zeit gedacht und an das Ende der demiurgischen Überspannungen? Zu den Charaktermasken unserer Zeit gehören der entthronte Geschichte-Macher und der bloßgestellte Phyturg (Naturschöpfer) – zwei Figuren, die wie aus Pascals anthropologischen Sentenzen entstiegen scheinen. Pascals erstaunliche Zugänglichkeit – zumindest in manchen Partien seines Werks – läßt sich aber nicht nur darauf zurückführen, daß dessen protoexistentialistische Töne projektive Aneignungen durch spätere Wahlverwandte leichtmachen mußten.
Pascal kommt auch ins Blickfeld radikaler revisionistischer Interessen, denen es darum zu tun ist, das Gesamtverhängnis der platonisch-christlichen Ideengeschichte von vitalistischen oder subjekt-kritischen Grundstellungen aus dekonstruktiv zu überdenken. Nietzsche hat vorgemacht, wie dieses wahlfeindschaftliche Verhältnis gerade vor den Größten der alten Welt nicht haltmacht: Mit einer Kraft zur Vergegenwärtigung, die an Gewaltsamkeit grenzt, hat der Erzdekonstruktivist Nietzsche die Gründer der moralisierten metaphysischen Weltanschauung, Sokrates, Paulus und Augustinus, auf einem überepochalen Kampfplatz zum Duell gefordert. In diesem Kampf der Titanen wird Pascal als Mitkombattant aufgerufen, weil Nietzsche in ihm die höchste Wiederverkörperung des augustinischen Genies auf neuzeitlichem Boden wahrnimmt. Pascal repräsentiert wie sein großer Vorgänger einen Typus von Intelligenz, der stolz genug ist, um für Demütigungen zugänglich zu sein. Erst von einer gewissen Höhe des Anspruchs an wird der Geist anfällig für die Erfahrung des Scheiterns an sich selbst. Von augustinischen Einsichten in die menschliche Gebrochenheit inspiriert, hat Pascal mit einer Neuvermessung des Umfangs von menschlicher Größe und menschlichem Elend begonnen. Nicht nur hat er hierbei die bis in aktuelle Diskurskonstellationen lebendige Korrelation von Erkenntnis und Interesse ursprünglich aufgedeckt, sondern er hat auch die Dialektik von Könnenssteigerung und anschwellender Ohnmachtserfahrung klassisch exponiert. Er ist hierin, tiefer und diskreter als Descartes, zum Ahnherrn der Moderne geworden. Aber während Descartes seine Leser eher in morgendlicher Stimmung und in programmatischen Aufbrüchen anspricht, ist Pascal ein Autor für nächtliche Lektüren und ein Komplize unserer intim gebrochenen Nach-Gedanken.
Nietzsches hingezogene Aversion gegen den melancholischen christlichen Mathematiker stellt den Stärken dieses Autors ein so beredtes wie (in Grenzen) gerechtes Zeugnis aus. An Pascal entdeckt Nietzsche, was bei einem geistigen Menschen am höchsten zu schätzen ist: jenen Sinn für intellektuelle Redlichkeit, der sich auch gegen die eigenen Interessen zu wenden vermag: fiat veritas, pereat mundus . Doch er bemerkt an ihm zugleich, worin er die größte Gefahr erkennt: die Neigung zum Miserabilismus und zum Sich-sinken-Lassen in eine affirmative Schwäche. Will der Nicht-Christ vom paradoxen Christen sich belehren lassen, dann vor allem dort, wo dieser sein letztes Wort über die condition humaine ausspricht: Hat nicht tatsächlich Pascal Nietzsches Theorem vom Willen zur Macht mit seiner Rede vom désir de dominer im 14. Provinzialbrief vorweggenommen?
Wenn es aber darum geht, für den Menschen der Zukunft die Möglichkeiten einer metaphysisch unvergifteten Selbstliebe zurückzugewinnen, dann ist Pascal kein Alliierter, sondern ein lehrreicher und schätzenswerter Gegner. Ein unverzichtbarer Verbündeter bleibt er für alle, die das Selbstverstehen der Selbstliebe vorangehen lassen wollen. Mit fast archaischer Heftigkeit verkörpert Pascal den Grundkonflikt der neuzeitlichen Welt: den Widerspruch zwischen dem operativen und dem meditativen Geist. Könnte das moderne Wissenschaftssystem so etwas wie Gewissen haben, Pascal müßte sein schlechtes Gewissen sein, denn sein Werk
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