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Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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praktisch irgendwo an der Macht war, taktierte er schon, in perfekt »realpolitischem« Stil, als Vormacht vor der Machtergreifung. Er war schon immer ein allzu genaues Diktat der »richtigen Linie«. Schon immer hat er jede praktische Alternative jähzornig vernichtet. Schon immer hat er zum Bewußtsein der Massen gesagt: Ich bin dein Herr und Befreier, du sollst keine anderen Befreier haben neben mir! Jede Freiheit, die du dir anderswo nimmst, ist eine kleinbürgerliche Abweichung. Im Verhältnis zu anderen Tendenzen der Aufklärung nahm auch der Marxismus jene Position ein, die der einer »reflektierenden Fläche« entspricht. Die intellektuellen Studienkader des Marxismus haben sich verhalten wie die Zensurabteilungen bürgerlicher Innen- und Polizeiministerien, die zwar alles studierten, was die nichtmarxistischen Aufklärer hervorbrachten, jedoch alles zensierten, was auch nur den Verdacht des Nonkonformismus nährte.
    Louis Althusser, der frühere theoretische Kopf der französischen Kommunistischen Partei, hat vor mehr als einem Jahrzehnt Unruhe ausgelöst, als er meinte, im Werke Marx’ einen »wissenschaftstheoretischen Bruch« festzustellen, einen Übergang von einer humanistischen Ideologie zu einer antihumanistischen Strukturwissenschaft, der zwischen dem Jugendwerk und dem Werk der Reifezeit stattgefunden habe. Dieser Bruch, den Althusser, als einer der besten Marx-Kenner der Gegenwart, theoretisch aufgespürt hatte, scheint sich in seiner eigenen Persönlichkeit reinkarniert zu haben. Er erkrankte gewissermaßen an dem, was er sah. Dieser Bruch wurde sein wissenschaftlicher, sein politischer, sein existentieller Ort. Weil Althusser Marx sympathetisch begriff, prägte sich der Bruch in der Marxschen Theorie und Existenz geradezu mit symbiotischer Tiefe in seine Lehre und sein Leben ein. Althusser ist, man darf es auszusprechen wagen, an diesem Konflikt zerbrochen. Seit Jahren hatte der Widerspruch zwischen seiner philosophischen Kompetenz und seiner Loyalität gegenüber der Kommunistischen Partei an seiner Theoriearbeit wie an seiner Existenz gezerrt. Verheiratet mit einer Soziologin »bolschewistischer Richtung«, verfolgte ihn der Konflikt zwischen Orthodoxie und Erkenntnis, zwischen Treue und Freiheit bis in sein privates Leben. Althusser erkannte, daß Marx in einer gewissen Hinsicht selbst nicht mehr Marx war und daß sich ein Bruch, eine Doppeldeutigkeit durch sein Werk zieht, die dessen theoretische und praktische Geltung immer erneut schwierig macht. In seiner Treue zur Wahrheit und zur Kommunistischen Partei war auch Althusser nicht mehr fähig, Althusser zu bleiben. So hat der weltberühmte marxistische Philosoph in einem, wie man sagt, »psychotischen« Anfall von Verwirrung am 16. November 1980 seine Ehefrau Hélène ermordet, vielleicht in einem jener verzweifelten Zustände, in denen man nicht mehr weiß, wo der andere beginnt und das Ich endet – wo die Grenzen zwischen Selbstbehauptung und blinder Zerstörung zerfließen.
    Wer ist der Mörder? Ist es Althusser, der Philosoph, der sich selbst auf dem Umweg über seine Frau, die »Dogmatikerin«, umbrachte, um den Zustand der Spaltung zu beenden, in dem der Philosoph nie richtig zum Leben kam? Ist es der Befreiungsmord eines Gefangenen, der in innerer Notwehr tötete, was ihn tötete? Ist es ein Mord an Althusser, dem Berühmten, der nur durch das Eintauchen in die zynische Sphäre der Kriminalität seine eigene falsche Identität, seinen falschen Ruhm, seine falsche Repräsentanz zerstören konnte? Wie die Psychologie von Selbstmördern weiß, die im Grunde Mörder eines anderen sind, so gibt es auch Mörder, die im Grunde Selbstmörder sind, indem sie im anderen sich selbst vernichten.
    Ich will versuchen, den Althusserschen »Bruch« anders zu interpretieren, als er selbst es tat, wobei ich auf sein Beispiel und die Sprache seiner Tat höre. Ich möchte dem Philosophen ein Denkmal setzen, indem ich seine Marxerkenntnis rekonstruiere – den wirklichen Bruch in der Marxschen Theorie. Es ist ein Denkmal für einen Mörder, der mit konfuser Gewalt jenen Bruch sichtbar machte, den kein Wille zur Vermittlung, keine Loyalität und keine Trennungsangst zum Verschwinden bringen kann.
    Im Marxschen Werk gibt es nicht einen Bruch zwischen einer »ideologischen« und einer »wissenschaftlichen« Phase, sondern einen Bruch zwischen zwei Modalitäten der Reflexion – einer kynisch-offensiven, humanistischen, emanzipatorischen Reflexion und einer

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