Mein Geheimnis bist du
Formalität.«
»Tja, falsch gedacht, Liebchen. Du wirst dich gedulden müssen.«
Für diese Bemerkung sandte Andrea einen giftigen Blick an ihre Freundin. Saskia nahm es gelassen. »Was willst du sonst tun?«, fragte sie pragmatisch. »Also, wenn du dich beruhigt hast, melde dich bei mir. Falls es länger dauert, sehen wir uns morgen wie gewohnt zum Mittag. Ich klingele durch. Muss jetzt los. Graf will die Zahlen vom Geschäftsjahresabschluss neu aufbereitet haben. Am liebsten gestern.« Saskia ließ ihre Freundin mit deren Ärger allein.
2.
A ndrea drückte den Knopf für den fünften Stock. Die Fahrstuhltür schloss sich leise. Ein kaum merkbarer Ruck, und es ging aufwärts.
Andrea seufzte innerlich. Zwei Wochen hatte sie Zeit gehabt, ihre Enttäuschung zu überwinden. Sie versuchte es damit, sich immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, dass sie es mit ihren dreißig Jahren schon recht weit gebracht hatte. Ihr unterstand immerhin der gesamte Bereich »Mahnung und Bestand«. Sie trug die Verantwortung für alle Geschäftsvorfälle betreffend Mahnung und Vollstreckung, Schuldner- und Sicherheitenwechsel. Darüber hinaus oblag ihr die Erstellung des laufenden Risikoreportings der Bestände. Neben einem fundierten Studium brauchte man einen geschulten Blick für Zahlen. Den hatte Andrea im Laufe der Zeit entwickelt und war, wie Brennicke ihr auch zugestand, eine hervorragende Analytikerin. Leider war das nicht genug, um weiterzukommen, wie sie hatte erfahren müssen.
Der Fahrstuhl hielt. Andrea stieg aus, ging die wenigen Schritte zu ihrem Büro und raffte ihre Unterlagen für die Besprechung zusammen. Ein schneller, prüfender Blick zur Uhr. Fünf Minuten vor neun. Zeit, um den Tatsachen ins Auge zu sehen.
Im Konferenzzimmer waren die Kollegen bereits versammelt. Andrea nickte Rainer Weller von der Kreditabteilung zu und setzte sich neben ihn.
»Ich bin gespannt auf das Wunderkind«, flüsterte Weller Andrea ins Ohr. Gemeint war natürlich Mareike Holländer. Andrea quittierte Wellers Bemerkung mit einem verkniffenen Lächeln. Woraufhin er meinte: »Tut mir leid für dich. Ich weiß, du hast mit der Stelle gerechnet.«
Andreas Lächeln entspannte sich. Sie bedachte Weller mit einem dankbaren Blick. Zu ihm hatte sie, trotz des Altersunterschiedes, oder gerade deswegen, ein ganz besonderes Verhältnis. Andrea betrachtete Weller als eine Art Lehrer. In ihrer Anfangszeit als Abteilungsleiterin geriet sie oft mit ihm aneinander. Jeder Vorgang, den sie mit Wellers Kreditabteilung abstimmen musste, zog sich unnötig in die Länge, wie sie fand. Grund: Wellers penetrante Korrektheit, seine akribische Befolgung der Vorschriften. Nie bekam man von ihm eine Unterschrift, bevor auch die letzte Zahl geprüft war. Also umging sie Weller und seine Prozeduren bei Gelegenheit, wenn sie es eilig hatte und der Vorgang Routine war. Hinterher erfand sie irgendeine Ausrede, um die Unterschrift nachzuholen. Das ging ein paarmal gut – und dann fiel Andrea auf die Nase. Ihre Ungeduld kostete der Bank einige zehntausend Euro. Weller nahm die Sache auf seine Kappe. Dann sagte er zu Andrea: »Wissen Sie, Frau Lange, ich war auch mal jung. Ich weiß, da kann einem alles nicht schnell genug gehen. Ich hoffe, Sie haben aus dieser Sache gelernt. Leichtsinn bleibt hundertmal ungestraft, aber einmal eben nicht. Dieses eine Mal reicht unter Umständen schon aus, sich das Genick zu brechen.«
Das blieb nicht Wellers einziger Rat. Und in der Mehrzahl waren sie hilfreich.
Andreas Gedanken wurden von Brennickes Erscheinen unterbrochen. Ihn begleitete eine hochgewachsene Frau in sandfarbenem Kostüm. Dunkles, schulterlanges Haar rahmte ein gleichmäßig geschnittenes Gesicht. Ihr »Guten Tag« offenbarte eine dunkle, angenehm klingende Stimme.
»Guten Morgen«, begrüßte auch Brennicke die Anwesenden. Er wies auf die Frau an seiner Seite. »Wie angekündigt, möchte ich die Gelegenheit nutzen, Sie alle mit Frau Holländer bekanntzumachen. Frau Holländer kommt von der Sparbank Hamburg, wo sie bis vor vier Wochen Leiterin der Investmentabteilung war. Der Vorstand ist froh, dass wir sie abwerben konnten.«
Brennicke führte Mareike Holländer zuerst zu Graf und Täufler, stellte die beiden vor. Dann leitete er die neue zweite Chefin weiter zu Andrea und Rainer Weller.
Andrea fühlte Mareike Holländers festen Händedruck, den warmen Klang ihrer Stimme. Die Worte: »Frau Lange. Auf gute Zusammenarbeit« lösten in Andrea ein unerwartetes
Weitere Kostenlose Bücher