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Mein grosser Bruder

Mein grosser Bruder

Titel: Mein grosser Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Berte Bratt
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ihr geliebter Vater gar nicht ihr Vater ist. Hedwig – die kleine Wildente, die erleben muß, daß ihre ganze Welt zusammenbricht.
    Ich versuchte, mir Hedwig auf der Bühne vorzustellen. Wie würde sie sich bewegen – wie würde ihre Stimme sein in dem ersten Gespräch mit der Mutter? Wie ihr Gesichtsausdruck in der Enttäuschung, als der Vater vergessen hat, ihr „was Gutes“ mitzubringen?
    Ich war von Hedwig wie besessen.
    Sich denken, eine solche Gestalt darzustellen, einem solchen kleinen Menschenkind Leben und Fleisch und Blut zu geben!
    „Du bist verrückt, Vivi“, sagte ich mir selbst. „Du leidest an Größenwahn! Komm zurück in die Wirklichkeit, ein bißchen dalli!“
    Leichter gesagt als getan!
    Zuletzt mußte ich Torsten meine Verrücktheit beichten. Zu meinem großen Staunen lachte er mich gar nicht aus. Er sah mich aufmerksam an, es war ein Blick voll Interesse und Verständnis.
    „Weißt du, was du tun solltest, Vivi? Lerne die Rolle und laß dich prüfen! Entweder kriegst du zu wissen, daß es doch nicht reicht, und daß du schön bei den Statisten bleiben sollst, oder der Chef meint, daß du Talent hast und Schauspielunterricht nehmen sollst. In beiden Fällen hast du dann deine verlorene Seelenruhe wieder!“
    „Torsten, du bist ein Goldschatz!“
    „Klar bin ich das. Ich sehe mich schon als Ehemann der neuen Sarah Bernhardt!“
    „Du Quatschkopf! Aber Torsten, versprich mir eins!“
    „Natürlich. Daß ich dies für mich behalte. Daß ich weder Elsa noch Johannes etwas darüber erzähle!“
    „Du liest meine geheimsten Gedanken! Genau darum wollte ich dich bitten.“
    „Ehrenwort“, sagte Torsten.
    Es war ein Wunder, daß Torsten in der Zeit, die nun folgte, jeden Tag ein genießbares Essen bekam, und daß die Wohnung einigermaßen saubergemacht wurde. In jeder freien Minute saß ich da mit dem vierten Band von Ibsens Werken, las Hedwigs Szenen wieder und wieder. Ich versuchte, die kleine Vierzehnjährige zu verstehen, ihre ahnungslose Liebe zu dem verlogenen, sentimentalen, egoistischen Vater. Ich fragte mich immer: Was empfindet Hedwig, wenn sie so dasitzt und mit der Mutter, mit dem Vater, mit dem Halbbruder spricht? Was geht in ihrem unschuldigen kleinen Kopf vor?
    Es dauerte nicht lange, bis ich die Rolle auswendig konnte. Wenn ich allein in der Wohnung war, versuchte ich, sie zu spielen. Ich sprach die Sätze laut, ich bewegte mich so, wie Hedwig sich in dem armseligen Fotoatelier bewegen soll. Ich versuchte vor allem, das Kindliche, das Ahnungslose in Wort und Bewegung einzubauen.
    Ab und zu mußte ich mich selbst fragen, ob ich wohl irgendwie „erblich belastet“ sei. Von der Familie meines Vaters wußte ich sehr wenig. Vielleicht war da irgendein Schauspieler gewesen?
    Jedenfalls, dieses „Etwas“ war da. Und ich arbeitete weiter mit der kleinen Hedwig.
    An einem sonnigen Märztag tauchte Elsa unverhofft bei mir auf.
    „Nanu?“ fragte ich. „Was soll das heißen? Du bist allein? Wo ist das achte Weltwunder?“
    „Bei Tante Charlotte“, sagte Elsa. „Zur Generalprobe.“
    „General… was hast du gesagt? Drück dich bitte in verständlicher Weise aus!“
    „Ja, wenn ich dazu imstande bin, ich bin vollkommen durchgedreht! Also, Vivi, halt dich fest: Ich fahre mit Johannes nach Australien!“
    „Austra…. habe ich richtig gehört?“
    „Vollkommen. Dein Bruderherz, mein geliebter Herr und Gebieter, arbeitet doch in der Wollbranche…“
    „Denk dir, das ist mir bekannt!“
    „Ja, und jetzt will seine Firma unbedingt einen Vertrag mit einem ganz großen Schafzüchter in Australien zustande bringen, du weißt…“
    „Ja, ich weiß: Merinowolle!“
    „Genau. Und der kluge Chef hat eingesehen, daß er seinen klügsten und zuverlässigsten Mitarbeiter hinschicken muß.“
    „Sieht er auch ein, daß der besagte Kluge und Zuverlässige seine unentbehrliche Frau mitnehmen muß?“
    „Er hat jedenfalls nichts dagegen! Also, dies wird eine kombinierte Geschäfts- und verspätete Hochzeitsreise! Johannes nimmt zwei Wochen seines Sommerurlaubs auf Vorschuß, zwei Wochen rechnet die Firma für das Geschäftliche – vier Wochen in Australien, Vivi! Ich bin vollkommen durcheinander, ich habe mir die Arme blau und grün gekniffen, um mich zu überzeugen, daß ich nicht träume! Ich habe mich nie in meinem Leben so gefreut!“
    „Oh, Elsa, wie ich euch das gönne! Und mein Brüderchen, sind seine Arme auch grün und blau?“
    „Ja, und außerdem schwarz und lila! Ich

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